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Lebensträume Zwanzig Jahre später: In „Lettipark“ erzählt Judith Hermann von dem Verlust von Freundschaften, die es vielleicht nie gabDie Tropfsteinhöhle in uns

Ihr Sound ist noch knapper geworden: Judith Hermann Foto: Peter Peitsch

von Susanne Messmer

Martha und Iris zum Beispiel. Früher einmal waren die beiden befreundet, sie wollten zusammen nach Amerika auswandern und besuchten am Ende einen Mann auf den Antillen, der vielleicht Drogenhändler war. Heute schleichen sie manchmal noch auf Partys umeinander herum, und wenn Martha zu viel getrunken hat, erzählt sie Iris jedes Mal unter Tränen, dass sie sich den Tod der ehemaligen Freundin vorstellen muss. Judith Hermann schreibt in ihrer Geschichte „Inseln“, die gerade in ihrem neuen Erzählband „Lettipark“ erschienen ist: „Aber das ändert eben nichts. Es verändert nichts, wir finden nicht mehr zueinander zurück.“

Es ist jetzt fast zwei Jahrzehnte her, dass Judith Hermanns Debüt „Sommerhaus, später“ erschien und die Autorin als Stimme ihrer Generation gefeiert wurde, als Stimme also, die dem breiten Publikum erklärte, wie die „Berliner Boheme“ damals lebte. Bei Judith Hermann wurden Leute geschildert, die häufig in den frühen Neunzigern nach Berlin gekommen waren, die in Anbetracht lächerlicher Mieten, riesiger Freiräume und unstrukturierter Studiengänge wenig Notwendigkeit sahen, über stressiges Zeug wie Geld und Arbeit und Alltag nachzudenken, die vorzugsweise ihren Gedanken nachhingen, zur Musik von Massive Attack im Auto die Frankfurter Allee rauf und runter fuhren, hin und wieder über dies und das ein paar Worte verloren, dabei ein bisschen rauchten – und irgendwie, ohne dass dies je zur Sprache gekommen wäre, in alldem verbunden schienen.

Genau diese Leute sind es, denen Judith Hermann in allem, was nach „Sommerhaus, später“ kam, treu geblieben ist – auch wieder in den neuen Erzählungen. Und eigentlich ist das ziemlich ungerecht, dass sie dafür seitdem immer wieder hart kritisiert wird.

Denn erstens ist da Judith Hermanns tolle Sprache, die außerdem wirklich immer toller geworden ist: noch ein wenig knapper, noch ein wenig stärker in diesem beiläufigen Sound, der doch auf wundersame Weise so ins Herz der Dinge trifft, die sie beschreibt – ungefähr so, als würde man in einer tiefen Tropfsteinhöhle kurz mal die Taschenlampe anknipsen. Aber zweitens, ja vor allem zweitens, ist es doch überhaupt nicht langweilig, sondern sehr interessant zu erfahren, was aus dieser Berliner Boheme à la Judith Hermann geworden ist. Was ist mit ihnen passiert, die sich einmal verbunden fühlten – ohne genau zu wissen, warum.

Vielleicht ist dies das Schlimmste an der Erzählung „Inseln“: Nicht, dass sich die Freundinnen heute nichts mehr zu sagen haben, sondern dass sie so weit auseinandergedriftet sind, dass sie sich kaum mehr zu erinnern scheinen, warum sie einmal zusammen waren. Was wurde aus dem Drogendealer, der von der Polizei geholt wurde? Wie endete die Reise und warum? „Wir wissen es nicht mehr“, schreibt Judith Hermann.

Die Figuren der Judith Hermann haben längst ihre Sommerhäuser gekauft – oder kämpfen darum, die Kinder durchzubringen. Sie müssen sich über Nachbarn ärgern, früh aufstehen, kochen, rechnen, sind aber auch irgendwie angekommen, wo auch immer.

Es gibt nur eine Figur, von der ein wenig Hoffnung ausgeht. Und das ist Greta

Das alles hat die Vergangenheit dermaßen weit weggerückt, dass selbst die Freundschaften von früher wie Lügen erscheinen. Alle Träume, die geträumt wurden, verloren ihren Glanz, als sie gelebt wurden. Und das Glück, das sie verströmten: Es lässt sich kaum mehr heraufbeschwören.

So geht es Iris und Martha, so geht es auch Teresa, die glaubt, einmal mit Effi befreundet gewesen zu sein – erst spät fällt ihr auf, warum Effi ihr einmal von einem Traum erzählt haben mag, in dem sie sie in die Tasche steckte. Sie wollte sie nicht beschützen. Sie wollte sie in die Tasche stecken.

Und Ada und Sophia? Als sie noch zusammenwohnten, blieb Ada bei offener Tür in ihrem Zimmer sitzen, während Sophia nebenan mit großer Geste die Schauspielerfreunde empfing. Noch heute setzt sie sich nach ihrer Ankunft still auf einen Stuhl vor Sophias Wohnung, bis diese endlich aufgestanden ist und die Tür aufmachen kann.

All diese Leute zweifeln plötzlich daran, dass sie je befreundet waren. Was sie darüber hinaus teilen: Es kommt ihnen vor, als hätten sie nicht mehr viel Zeit, darüber zu trauern. Denn Menschen, die eher an den Dingen vorbeischlenderten, als sich in sie hineinzustürzen – die eher träumten, am Rand standen und zusahen, als selbst Zäsuren zu setzen: Sie merken natürlich, dass die Zeit, die sie so verbracht haben, verdammt schnell vorübergegangen ist. Das ist neben dem Verlust von Freundschaft, die es vielleicht so nie gab, der andere Kern der neuen Erzählungen von Judith Hermann.

Es ist ein schwarzes, ein sehr, sehr trauriges Buch, das Judith Hermann da geschrieben hat. Im Grunde gibt es nur eine einzige Figur darin, von der ein wenig Hoffnung ausgeht. Und das ist Greta.

Greta ist nicht mehr Mitte vierzig, sondern bereits Mitte achtzig. Sie lebt in einem großen Haus mit wildem Garten und chaotischen Zimmern. Greta will auf keinen Fall, dass sich jemand um sie kümmert, auch nicht Maude, die beschließt, trotzdem oder gerade deshalb bei ihr einzuziehen. Eines Tages will Maude in den Urlaub fahren, an einen See in Italien. Da erzählt ihr Greta, dass sie auch einmal an diesem See war – und Zeugin eines Badeunfalls wurde.

Und da versteht Maude plötzlich. Greta, die knallharte Greta mit den „sehr hellen Augen“: Sie hat keine falschen Erinnerungen mehr. Es ist ihr vielmehr gelungen, ihre Erinnerungen loszuwerden, abzuwerfen.

„Wie Blätter“, schreibt Judith Hermann. „Wie eine Haut.“

Judith Hermann: „Lettipark“. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 187 Seiten, 18,90 Euro

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