Leben auf der Straße: Nachschub bei Peggy
Julian ist drogenabhängig. Er ist froh, das Geld dafür selbst zu verdienen – mit dem Verkauf von Straßenmagazinen. Die Konkurrenz ist groß.
BERLIN taz | Niemand schläft in dem Wohnwagen, der seit fast zwanzig Jahren am Nollendorfplatz in Berlin steht. Drei Vorhängeschlösser versperren Nacht für Nacht die kleine graue Tür. Obwohl die Leute, die tagsüber regelmäßig ihren Kopf in den verrauchten Innenraum stecken, nichts mehr bräuchten als ein Dach über dem Kopf.
Das, was sich im Inneren des Wagens befindet, hat mehr als einen materiellen Wert: tausend Exemplare der aktuellen motz. Der beige Wagen im Westen Berlins ist eine Verteilerstelle der Straßenzeitung. Arme und noch Ärmere können hier für 40 Cent pro Exemplar einen Job, einen geregelten Alltag und ein bisschen Respekt kaufen.
Tagsüber wacht Peggy Kaufmann über den Wagen. „Ick bin hier eigentlich allet: Sozialpädagoge, Krankenschwester, Seelsorger und Verteiler, aber ditte am wenigsten.“ Sie lacht. Ihr breiter, schwerer Körper wackelt. Früher hat sie ehrenamtlich für den motz-Verein gearbeitet, jetzt sitzt die gelernte Sozialpädagogin seit fünf Jahren als Angestellte auf der orangen Couch gegenüber der Wohnwagentür.
motz & Co e. V. ist ein gemeinnütziger Verein. 1995 gegründet, gibt er das Straßenmagazin motz bzw. motz-live heraus und betreibt eine Notübernachtung für Wohnungslose. Die von Christian Linde und freien Mitarbeitern erstellte motz wird durch die Betroffenenausgabe motz-live ergänzt.
motz/motz-live erscheinen wöchentlich im Wechsel. Jeder darf sie vertreiben. Straßenverkäufer erwerben sie für 40 Cent und verkaufen sie für 1,20 Euro weiter.
Links von ihr stapeln sich 910 Zeitungen bis zur Wohnwagendecke, rechts in greifbarer Nähe liegt ein kleinerer Stapel, schön in Zehnerpacken sortiert. Ihr wacher Blick geht durch die Tür auf Nolle 7, die Bar, in der das Bier so viel kostet wie die motz für U-Bahn-Fahrer: 1,20 Euro.
Peggy kennt jeden ihre Kunden, sorgt sich um jeden, und vor allem sorgt sich jeder um sie: Miss Piggy und Schneck Peg sind ihre Spitznamen unter den Wohnungslosen. Joscha*, sein halbes Leben schon obdachlos, massiert Peggys angeschwollene Beine. Olli, der einzige motz-Verkäufer, der außer Alkohol keine anderen Drogen konsumiert, kauft ihr täglich eine chinesische Suppe – ihre einzige Sucht. Peggy hat eine kleine Altbauwohnung mit Gartenanteil, einen blauen Kia Galaxy und einen Freund zu Hause, das weiß aber auf Arbeit niemand. Ihre Kunden haben keine Wohnung, kein Geld für ein U-Bahn-Ticket und oft nicht einmal lose Freundschaften.
Jeder kann hier landen
Nach Peggys Erfahrungen kann eigentlich jeder hier landen, sie hat viel gesehen und noch mehr gehört: Michael, ehemaliger Hotelmanager, hat erst seinen Sohn verloren, danach seine Frau und dann seinen Job. Jetzt steht er tagsüber am Savignyplatz, und nachts schläft er dort, wo er tagsüber die Zeitung verkauft. Tom und Sabrina verkaufen nur zu zweit in der U-Bahn. Sie haben vor, sich freiwillig der Polizei zu stellen, „um über den Herbst einzusitzen“: 2.400 Euro Schulden bei den Berliner Verkehrsbetrieben, ungefähr acht Monate Gefängnis. Till, 25, sollte Vater werden. Seit zehn Jahren ist er heroinabhängig und deshalb eigentlich nicht zeugungsfähig. Trotzdem ist seine Freundin Louise, die nur ab und zu mal kifft, von ihm schwanger geworden.
Studien belegen, was Peggy sagt: Obdachlos zu werden geht oft ziemlich schnell und kann fast jeden treffen: Frau weg, zu viel Alkohol, Job weg. Meist sind es nur drei Schicksalsschläge, die dazu führen, ein Zelt auf einer geschützten Grünfläche aufzuschlagen und sich auf einer öffentlichen Toilette zu rasieren. Manchmal reicht auch weniger, die falsche Mutter, falsche Freunde, keine Hilfe. In Deutschland leben laut Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. 280.000 Menschen ohne Wohnung. Seit 2008 steigen die Zahlen massiv. Bis 2016 soll es fast 380.000 Obdachlose auf Deutschlands Straßen geben.
Jeder darf verkaufen
Auch die Zahl der motz-Verkäufer steigt. Das Stück Wiese vor dem Zaun, über den alle steigen, wenn sie am Nollendorfplatz die Zeitung abholen und nicht den Umweg über die Ampel nehmen wollen, ist schon ganz abgetreten. Zwangsgeräumte, Hartz IV- Empfänger und Zugewanderte gesellen sich zu denjenigen, die das Klischee des Wohnungslosen ausmachen: jung, männlich, drogensüchtig.
„Wir unterscheiden nicht zwischen Armen und noch Ärmeren“, meint Gründervater und aktueller Chefredakteur der motz, Christian Linde. Im zweiwöchigen Turnus und mithilfe von sesshaften und wohnungslosen Autoren produziert er eine Zeitung, die immer auch Themen der Betroffenen behandelt. „Diese Woche haben sie einen Artikel über einen motz-Verkäufer gedruckt, der ein Handy in einem Restaurant geklaut hat.
So was ist schlimm. Schließlich muss ich die Zeitung verkaufen, in der wir Verkäufer bloßgestellt werden.“ Till ist mit seinem besten Freund Julian einer derjenigen, die die Funktion der Zeitung finanziell und strukturell effektiv umsetzen: Sie nutzen das niedrigschwellige Angebot der motz, um mit dem täglichen Verkauf ein selbst verantwortliches und geregeltes Leben führen zu können.
Julian und Till arbeiten jeden Tag zwölf Stunden außer sonntags. Zweimal am Tag, morgens und abends, essen sie, manchmal bei McDonald’s. Dreimal am Tag holt Till Zeitungen bei Peggy. Und viermal am Tag müssen sie Heroin spritzen. Sie übernachten gemeinsam, teilen ihr Geld, und wenn einer krank ist, arbeitet der andere für zwei.
Eigentlich hätten sich die beiden wohl nie kennengelernt. Till, Sohn eines Alkoholikers, aufgewachsen in einem Kinderheim; Julian, Sohn eines Polizisten, aufgewachsen in einer behüteten Familie in Brandenburg. Till hat die Ausbildung zum Elektroinstallateur in einer Thüringer Justizvollzugsanstalt (JVA) gemacht, während Julian sein Abitur in Potsdam bestritt. Abschlussnote: 1,5. Das war 2006.
Mittlerer Eingang, S-Bahn-Linie 1
Damals hätte Julian sich nie träumen lassen, dass er irgendwann einmal dort ankommt, wo er heute steht: 23 Kilo Zuhause auf dem Rücken, eine motz-Ausgabe in die Luft haltend, mittlerer Eingang, S-Bahn Linie 1. „Einen schönen guten Tag wünsche ich, höflicherweise möchte ich mich kurz vorstellen.“ Es piept, die S-Bahn-Tür geht zu, Julian macht eine Pause und spricht dann mit lauter, tiefer Stimme weiter: „Ich heiße Julian und bin einer der zahlreichen Obdachlosen in Berlin.
Dank Ihrer Hilfe ist es mir möglich, über den Verkauf der motz meinen Lebensunterhalt auf ehrliche Art und Weise zu verdienen.“ Ungewaschen läuft er durch den Gang. Braune längere Haare, löchrige Jeans, ein fleckiger Kapuzenpulli. So ist er, aus eigener Erfahrung, der Verkäufer schlechthin. „Am Anfang habe ich mich gewaschen, den Bart rasiert, frische Kleidung angezogen. Da haben mir die Leute vorgeworfen, ich lüge, ich sei doch gar kein Obdachloser.“
7 Euro kostet eine Dusche am Berliner Bahnhof Zoo. Um ab und zu mal Bockwurst und ein Schokoeis essen zu können, um die motz- Exemplare für den nächsten Tag zu kaufen und um keine Entzugserscheinungen zu haben, müssen Julian und Till ungefähr 100 Euro am Tag verdienen. Montag, 1. Juli: 67,55 Euro. So steht es in kleinen Ziffern in Julians Notizheft, in das er fein säuberlich alle Einkünfte und Ausgaben einträgt. Seit dem ersten Tag seiner Obdachlosigkeit vor einem Jahr.
Seit dem Tag, an dem er aus dem Gefängnis kam, an dem er durch Zufall Till kennengelernt hat, an dem er „in sein neues Leben“ startete. Das Leben, das er sich so anders vorgestellt hatte: Erst arbeiten und dann Jura studieren war sein Plan. Einen Job hatte er nach dem Schulabschluss sofort gefunden: in Bayern, als Garten- und Landschaftsbauer. Von dort wurde er nach Amsterdam versetzt und hatte damals schon, mit Auslandszuschlag, 2.500 Euro netto in der Tasche. Warum er angefangen hat mit Drogen zu dealen, kann er sich auch nicht mehr erklären. Was er wusste, war, dass die Haftstrafe seinen Traum vom Jurastudium beenden würde.
Hartz IV zu beantragen wäre für Julian wahrscheinlich ein Klacks. Aber für ihn „ist es schlimm genug, dass es solche wie uns gibt“. Das meint er so, wie er es sagt. Er ist nicht stolz darauf, drogenabhängig zu sein, aber froh, wenigstens das Geld dafür selbst zu verdienen. Zweimal haben Till und Julian versucht, das Heroin abzusetzen. Gleichzeitig haben sie eine Wohnung beantragt. Die erste war 5 Meter zu groß, die zweite 18 Euro zu teuer, beide Anträge wurden abgelehnt. „Wenn du auf der Straße bist und ohne Perspektive, ist es unglaublich schwer, clean zu bleiben“, sagt Till.
Peggy verdient weniger
Im Gegensatz zu Julian hatte Till eine Perspektive. Seine Freundin war schwanger. Mit Kind hätte er sofort eine Wohnung gekriegt und für das Kind den kalten Entzug durchgestanden. Drei Tage vor Ende der legalen Abbruchzeit hat Louise das Kind doch noch abgetrieben. Tills Facebook-Freunde hatten sowieso eine gespaltene Meinung zur Vaterschaft, Peggy auch, obwohl sie denkt, dass Till „een richtig juter Junge ist“. Till war das egal. In Louises Bauch wuchs seine Hoffnung auf eine andere Zukunft.
„Eigentlich müssten die Jungs für mich anschaffen gehen“, meint Peggy. Sie sitzt für 5 Euro die Stunde dreimal die Woche im Waggon am Nollendorfplatz. Für das Geld würde Till nicht arbeiten – zumindest nicht in seinem gelernten Beruf. Peggy eigentlich auch nicht – „wenn ick nur die meisten hier nich so gern hätte“. Um halb acht schließt sie drei Schlösser der Wohnwagentür ab. Olli trägt ihre voll gestopfte Handtasche über den Parkplatz zum Auto, weil Peggy etwas an den Bandscheiben hat. Er legt die Tasche auf den Beifahrersitz und dreht sich um, läuft am Wohnwagen vorbei und verschwindet über den Zaun. Wo er heute Nacht schläft, weiß Peggy nicht. Ihr gemeinsames Leben fängt erst morgen wieder an.
*Die Namen aller Wohnungslosen wurden geändert.
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