: Leben am Plagesee
Zu Besuch bei Hannelore Gilsenbach
von GABRIELE GOETTLE
Dr. rer. nat. Hannelore Gilsenbach, Biologin, Schriftstellerin, Liedermacherin. 1968–1972 Studium d. Biologie an d. Uni Rostock, 1972–1988 Wissenschaftlerin am Institut f. Pflanzenschutzforschung Kleinmachnow, Bereich Eberswalde. 1973 Geburt ihres Sohnes. 1979 Promotion. 1973–1985 Sängerin d. Amateurgruppe Rhythm&Blues Collegium Eberswalde.
1984 die große Liebe zu Reimar Gilsenbach, dem Schriftsteller, Naturschutzaktivisten und späteren geistigen Vater des Ökodorfes Brodowin. 1988 Kündigung beim Institut f. Pflanzenschutzforschung und Arbeit als freie Journalistin, Liedermacherin u. Schriftstellerin. Themenschwerpunkt: Naturschutz u. Ökologie, Kompositionen u. a. nach Texten v. R. Gilsenbach, Auftritte mit musikalisch-literarischem Programm. 1994 Mitbegründerin des Bundes für Naturvölker und seither Chefredakteurin d. Zeitschrift Bumerang – ‚Naturvölker‘ heute. Sie verfasst gelegentlich Beiträge für Zeitungen u. für Rundfunk u. Fernsehen und ist Autorin des Buches „Hochzeit an der Transamazônica“ (Bad Honnef 2000). Sie ruft auf zum Erlernen anderer Umgangsweisen, u. a. durch musikalisch-literarische Veranstaltungen für Kinder (Aufzeichnungen ihrer Lieder gibt es auf CD). Seit 2005 Wiederaufnahme d. „Brodowiner Gespräche“ (gegründet 1981 von R. Gilsenbach, als kritische Gesprächsrunde für Literaten, Wissenschaftler und Interessierte).
Derzeit Arbeit an einer Trilogie „Märchen der Ureinwohner“ u. intensive Beschäftigung mit deutscher Kolonialgeschichte. Hannelore Gilsenbach wurde 1950 in Ueckermünde/Mecklenburg geboren – ihr Vater war Holzkaufmann, die Mutter arbeitete als Buchhalterin. Sie ist verwitwet und hat ein Kind.
Brodowin liegt etwa 100 Kilometer nordöstlich von Berlin, in einer sogenannten strukturschwachen Gegend mit schlechten Ackerböden. Auf den Weiden des Ökohofes lagern wiederkäuend einige Jungkühe. Irgendwo kräht ein Hahn, die Schwalben fliegen mit pfeilschnellen Kapriolen über den Plattenweg. Doch der Anschein himmlischer Ruhe trügt. Hier ist man geschäftig. Die Arbeitslosenrate drüben im Ort ist im Vergleich zum Umland verschwindend gering. Seit die ehemalige LPG „8. Mai“ nach der Wende in einen Ökobetrieb umgewandelt wurde, geht es stetig bergauf. Heute ist der Ökohof Brodowin einer der größten und erfolgreichsten Ökobetriebe Europas. Neben Milchwirtschaft, eigenem Futteranbau und Veredelung wird auch Gemüse erzeugt, das in den berühmten Abo-Gemüsekisten an Berliner Ökokunden geliefert wird. Das Dorf Brodowin selbst ist eines jener lang gestreckten brandenburgischen Dörfer mit Anger, alten Bäumen, Kirche und Kopfsteinpflaster. Man ist eingerichtet auf Besucher und Touristen.
Außerhalb des Dorfes, am Rande des Plagefenns – des ältesten Naturschutzgebiets Brandenburgs –, liegt inmitten von Wiesen, Feldern und Seen ein gelbes Haus mit blauen Fensterstöcken und rankendem Efeu. Hier lebt Hannelore Gilsenbach ganz alleine, mit Hund, Katzen und einigen Barnevelder Zwerghühnern, auf die sie vom Schreibtisch aus blicken kann. Beim Spaziergang durch ihr 12.000 m[2]großes Paradies, mit eigenem See, Gästehäuschen, ehemaligem Imkerhaus, alten Bäumen und großem Gemüsegarten, wird klar, dass die Idylle mit viel Arbeit verbunden ist, zu der man vielleicht nicht immer aufgelegt ist.
Sie zeigt uns auch noch die wohlgeordnete Werkstatt im Keller, bevor wir hinaufgehen ins Wohnzimmer. Hier finden im Herbst und Winter auch die „Brodowiner Gespräche“ statt, hier wird gegessen, hier macht sie mit Freunden Musik. Ihre Gitarre lehnt am Bücherregal, es gibt ein elektronisches Klavier und afrikanische Trommeln. Auf dem Schrank sitzen alte Raubvogelpräparate mit strengem Blick.
Unsere Gastgeberin schenkt Tee ein und beginnt mit ihrer Erzählung: „Ich bin 1950 in Ueckermünde geboren. Mein Vater hatte versucht, als Holzkaufmann mit einem kleinen Unternehmen Fuß zu fassen nach dem Krieg, es ist aber pleitegegangen. Darunter hat er sehr gelitten. Als ich neun war, ist er aus dem Haus gegangen. Die Ehe wurde geschieden. Im Grunde genommen bin ich bei drei Frauen groß geworden, bei meiner Mutter, meiner Tante und meiner Oma. Ich bin sehr liebevoll und behütet groß geworden – mein Bruder war auch noch da und ein Cousin, die waren älter. Was ich mitbekommen habe an Liebe zur Natur – besonders von der Mutter –, das hat mich für mein ganzes Leben geprägt.
Wir haben die Natur betrachtet, sind viel spazieren gegangen, und ich lernte spielend die Namen der Pflanzen und Tiere. Ich habe auch zu Hause Tiere gehabt, durfte auch Tiere mitbringen von unseren Wanderungen. Ich hatte eine Schlange. Meine Erziehung war sehr tolerant, ich durfte alles, kein lautes Wort fiel. Das hatte den Nachteil, dass ich dann, als ich ins ‚wahre Leben‘ hinausging, ins Internat usw., anfangs nicht so ganz zurechtkam. Ich musste ja mit 14 Jahren zur erweiterten Oberschule nach Anklam, weil’s bei uns ja keine gab, und das war mit Internatsaufenthalt verbunden bis zum Abitur. Und da habe ich, wie es üblich war in der DDR, parallel eine Berufsausbildung gemacht, und das war Agrotechnik. Also man hatte zwei Möglichkeiten: entweder Berufsausbildung mit Abitur – oder Abitur mit Berufsausbildung. Der Unterschied war jeweils die Wichtigkeit. Ich habe letztere Variante gewählt. Wir haben drei Wochen in der Schule gelernt und sind dann eine Woche in die Landwirtschaft.
Es war anfangs ziemlich anstrengend, wir waren ja noch schwach, und Agrotechnik, das hieß auch Rüben hacken. Morgens um fünf standen wir auf dem Acker. Wir haben auch Strohballen gestapelt und schwerste Arbeit gemacht. Dadurch habe ich aber auch erst mal die Verbindung zur Landbevölkerung, zu ihrem Arbeitsleben bekommen, und auch sonst … die waren ja sehr speziell, von der Kultur her und den Gesprächsthemen usw. Und ich habe gelernt, dass man als Frau die erstaunlichsten Dinge machen kann. Ich habe alle Fahrberechtigungsscheine erworben: für Mähdrescher, Kartoffelerntemaschine, Rübencombine, Lkw, Traktor, alles! Ich habe da auch eine Selbstsicherheit in allem Handwerklichen gelernt, davon profitiere ich bis heute.
Na gut. Nach dem Abitur ging ich an die Uni nach Rostock und habe begonnen Biologie zu studieren. Aus Liebe zur Natur. Aber ich musste schnell begreifen, dass das mit Liebe zur Natur wenig zu tun hat, so ein Biologiestudium. Dazu kam, dass damals, das war 1968, in der DDR grade die Hochschulreform ausgebrochen war. Es entstanden bestimmte Fachuniversitäten und Vorgaben, für Rostock war nun Meeres- und Fischereibiologie das vorgegebene Spezialstudium, nach einem Grundstudium von zwei Jahren. Ich wollte natürlich nicht in die Hochseefischerei einsteigen. Die Hochseefischerei der DDR entwickelte sich damals grade. Meine Perspektive hätte so ausgesehen, dass ich auf irgendeinem Hochseekahn Heringe seziere und feststelle, ob sie dem nördlichen oder östlichen Typ angehören. Das macht man anhand der Gehörsteine. Es dient der Fangstatistik. Also davor graute mir. Deshalb habe ich das Studium sehr halbherzig absolviert, hab’s aber mit Diplom zu Ende gebracht.
Damals war ich grade frisch mit meinem ersten Mann zusammen. Ich habe es dann geschafft, in einem anderen Bereich arbeiten zu können, im Institut für Pflanzenschutzforschung Kleinmachnow, Bereich Eberswalde. Aber nicht als Insektenforscherin oder Biologin, sondern als Betreuerin für RGW-Delegationen [Rat f. gegenseitige Wirtschaftshilfe; Anm. G. G.]. Da ich Russisch und Englisch gut beherrschte, habe ich die Delegationen der osteuropäischen und befreundeten Staaten betreut. Und ich habe mich dann so gut entwickelt, dass ich simultan übersetzt habe und dazu natürlich die fachbiologischen Sachverhalte vermitteln konnte. Deshalb hat man mich genommen. Was vielleicht auch noch wichtig ist: 1972 habe ich mit vier Kollegen vom Institut eine Bluesband ins Leben gerufen, die gibt es heute noch. Da habe ich 13 Jahre Blues und Soul gesungen.
Und ich hätte in Eberswalde eine Neubauwohnung bekommen – was ja zu DDR-Zeiten absoluter Luxus war –, und ich war mittlerweile verheiratet und hatte schon mein Kind. Ich nahm ein Jahr Pause. In der DDR war es ja so, dass man ohne Weiteres ein Kind bekommen konnte, arbeiten konnte oder promovieren konnte und nach diesem Jahr wieder seine Arbeit bekam. Letzteres habe ich gemacht. ‚Populationsdynamische Grundlagen zur Modellierung des Kartoffelkäfers‘ …“ Sie lacht. „1978 habe ich die Promotion verteidigt. Diese Forschung, die unser Institut machte, war ganz eng verbunden mit der Praxis. Die Berechnungsergebnisse wurden regelmäßig an die Bekämpfungsstellen gesendet, an die Einrichtungen für Pflanzenschutz in der gesamten DDR, so wurde die Bekämpfung der ‚Schaderreger‘ – so nannte man das – generalstabsmäßig organisiert. Ich habe mich dann auch mit alternativer Literatur befasst, damals ging es ja los mit der Umweltbewegung im Westen, mit dem ‚Stummen Frühling‘ und solchen Werken, die natürlich auch heimlich in die DDR einsickerten.“ [„Silent Spring“, eine populärwissenschaftliche Kritik d. Biologin Rachel Carson am Einsatz von DDT und seinen Folgen, erschien 1962 i. den USA und wurde zum Auslöser für den ökologischen Widerstand i. Amerika u. auch in Deutschland; Anm. G. G.]
„Für mich wurde das zunehmend ein Problem, dass die DDR keinerlei alternative Überlegungen zugelassen hat. Biologischer Pflanzenschutz, ökologischer Landbau, diese Themen waren absolut indiskutabel! 1979 habe ich mich bereit erklärt, Kreistagsabgeordnete zu werden. Ich war nie in der Partei, ich war aber als Sängerin im Kulturbund, und der war Mandatsträger. Die Kreistagssitzungen waren natürlich vollkommen gleichgeschaltet, total steril, und auch träge. Wer die Unterlagen genau las, der wusste, dass man als Abgeordneter ja auch Beschlussvorlagen einbringen kann. Darauf habe ich mich dann konzentriert. Ich habe dann Stück für Stück erfahren, was es an Problemen im Kreisgebiet gab.
Wir hatten vor allem ein Problem: die Schweine, die Intensivhaltung. Der Schweinegestank zog übers Wohngebiet, in dem ich lebte, über ganz Eberswalde. Auch die Gülle stank von den Feldern her, es war schlimm. In den 80er-Jahren wurde durch einen Parteibeschluss auf Güllewirtschaft umgestellt, auf Gülleställe. Dem Vieh durfte kein Stroh mehr eingestreut werden in die Ställe. Unsere Kollegen haben mit Hilfe von Wachstumshormon erreicht, dass das Korn kürzer wächst, denn nun brauchte man ja das Stroh nicht mehr. Das Vieh musste von da an auf Beton-Spaltenfußböden stehen und liegen, durch die alles nach unten abfließen konnte. Die Methode erspart eine Menge Arbeit, wurde argumentiert. Das musste natürlich alle paar Tage entsorgt werden, Güllevorratsspeicher waren nicht mit eingeplant, es fehlten ja Geld und Material.
Sehr schnell entstand ein unlösbares Problem. Es gab immer zu viel Gülle und zu wenig ‚Güllevernichtungsflächen‘, so hieß das. Die staatliche Gewässeraufsicht genehmigte diese Flächen, und es wurden immer mehr auch Seen und Waldmoore mit einbezogen. Man kann heute noch die Schäden sehen. Außerdem waren zum Teil die Naturschutzgebiete bedroht. Gleichzeitig aber hatten wir ein wunderbares Landeskulturgesetz, das nicht angewandt wurde.
Mich hat das einfach gejuckt, diese Widersprüche zu thematisieren. Dann habe ich Freunde gesucht und auch gefunden, Kollegen aus den Instituten, Naturschützer und andere Unterstützer, hab mir die Probleme auflisten lassen und einen Entwurf gemacht für eine Naturschutzkonzeption des Kreises Eberswalde. Die hatte Hand und Fuß! Da hatten viele Fachkollegen mitgearbeitet. Ich habe das dann eingebracht, es nahm den normalen Weg durch die Gremien, und am Ende wurde diese Beschlussvorlage einstimmig angenommen, denn es wurde grundsätzlich alles einstimmig angenommen! Das hatte es noch nie gegeben, dass ein Abgeordneter von sich aus eine Vorlage eingebracht hätte. Wir haben diese Naturschutzkonzeption also durchgebracht durch den Kreistag, und ein Punkt war, dass für die Landschaftsschutzgebiete hier – dazu gehörte zum Beispiel auch der Choriner Endmoränenbogen – Pflegepläne zu erarbeiten sind. Das war quasi die Vorbereitung zu dem, was heute existiert als Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin. Der Landschaftsschutzplan wurde so 1984/85 fertig, und es gab auch schon die Gesellschaft für Natur und Umwelt damals, die kennen Sie ja sicher?! [Die GNU entstand 1980 als Fachgruppe im Kulturbund u. diente, trotz staatlicher Einflussnahme, vielen Umweltkritikern und Aktivisten als Plattform; Anm. G. G.]
Dann gab es die Blockade der Autorallye, die ist für mich besonders wichtig, denn über diese Proteste bin ich mit Reimar Gilsenbach bekannt geworden. [R. Gilsenbach, geboren 1925 und gestorben 2001, aufgewachsen in einer anarchistischen Siedlungsgemeinschaft, blieb zeitlebens unangepasst und war einer der frühen Umweltaktivisten in der DDR. Seit 1961 lebte er als freischaffender Schriftsteller und trat u. a. f. die Gründung von Nationalparks i. d. DDR ein, war eng mit Havemann und Biermann befreundet und wurde observiert. 1975 zog er nach Brodowin. Er war Mitglied des Kulturbundes u. wurde 1980 i. d. Zentralvorstand d. Gesellschaft f. Natur u. Umwelt berufen, trat 1986 aus u. war 1990 einer der Mitbegründer d. Grünen Liga, Umweltdachverband d. DDR. Seit Mitte d. 80er-Jahre arbeitete er an seinem Hauptwerk, seiner Weltchronik der Zigeuner, geplant waren vier Bände, zwei sind erschienen. Er war seit 1991 Mitglied im Romani-PEN; Anm. G. G.] Also diese Rallye wurde veranstaltet vom Reifenkombinat in Fürstenwalde, als angebliche Test- und Reklamefahrt ihres Reifens Pneumant. 1960 wurde das ins Leben gerufen und seither jedes Frühjahr, wenn der Seeadler brütet und die Kraniche schon zurück sind, mitten durchs Landschaftsschutzgebiet hindurch veranstaltet. Sie sind auf den alten Kopfsteinpflasterstraßen mit Höchstgeschwindigkeit in die Kurven rein, etwa so 100 Fahrzeuge. Der Reimar hat von hier aus protestiert und Eingaben gemacht. Und als ich das erfuhr von den Forstleuten, da haben wir dann auch Eingaben gemacht, zehn Jahre lang.
Einmal haben wir die Rallye sogar zum Stillstand gebracht, dann fuhr sie aber doch wieder, immer aggressiver, und ich erfuhr dann, dass der Mielke-Sohn im Rallyevorstand war! Es gab dann so eine Kampfsitzung im Rat des Kreises Eberswalde, und da erlebte ich den Reimar, wie er ohne jegliche Scheu, prägnant formulierend, diesen ganzen Funktionärstypen alles ins Gesicht sagte. Das war sehr selten in der DDR, kuschen war die Regel. Das hat mich stark beeindruckt und sehr für ihn eingenommen. Später, als wir dann befreundet waren, sagte er, er will ein Lied darüber schreiben, weil die politischen Mittel alle erschöpft sind. Und seither existiert das Rallyelied, ich habe die Musik dafür gemacht und habe es auch gesungen – das war dann etwas später, als ich mit Reimar schon zusammen war.
Er hatte ja schon viele Bücher geschrieben über Natur und Naturschutz, er war einfach einer der wenigen Aufrechten in dieser Zeit, herausragend. Er ist gegen den Strom geschwommen, und ich habe es auch versucht, so gut es ging. Das hat uns zusammengebracht. Die erste Zeit haben wir uns heimlich getroffen, wir waren beide noch verheiratet. Wir trafen uns in einer Kiefernschonung, wo sollten wir hin?! Und wenn man verliebt ist, dann ist man noch mal ganz besonders sensibel gegenüber der Welt und ihren Lebewesen. Und wir haben gesehen, wie die Bäume absterben, unter denen wir uns geliebt haben. Die Schwaden von Ammoniak aus den intensiven Schweineställen zogen über uns hinweg, und dann haben auch noch die Russen mit ihren MiG-21-Kampfflugzeugen den ganzen Tag die Schallmauer durchbrochen. Das knallte so, dass die Nadeln von den kranken Bäumen rieselten. Damals hat Reimar unser erstes Lied gemacht, den ‚Herbstkiefern-Blues‘.
Ab 1986 bis weit nach der Wende sind wir dann ja mit Liederprogrammen aufgetreten. Die hatten zwei Titel: ‚Zuspruch für Verletzbare‘ und ‚Trostlied für Mäuse‘. Damit sind wir kreuz und quer durch die DDR gezogen, sind zuerst in Kulturhäusern aufgetreten und zuletzt nur noch in Kirchen, denn dort sammelte sich der ganze Widerstand. Die Stasi war jedes Mal mit dabei, das erfuhren wir später aus unseren Akten. Man hat uns aber nie verboten. Poesie muss man erst mal kapieren, bevor man sich angegriffen fühlt. Normalerweise hätten wir uns diese ganzen Auftritte genehmigen lassen müssen, als Liedermacher, durch die Abteilung ‚Sozialistische Kulturpolitik‘ beim Rat des Kreises, aber Reimar hat das als Schriftseller gemacht und ich sozusagen als Wissenschaftlerin. So entfiel die Genehmigung. Ich war ja bis 1988 in der Wissenschaft noch angestellt – 1987 habe ich mich scheiden lassen –, und ein Jahr vor der Wende, ermutigt durch die Freundschaft zu Reimar, habe ich dann gekündigt. Meine Kollegen konnten das nicht begreifen, das schien eine total gesicherte Laufbahn. Die ‚Intelligenzrente‘ hatte ich sozusagen schon in der Tasche, ich habe relativ gut verdient, und dann plötzlich hatte ich nicht mal mehr eine Versicherung.
Heute geht es ja vielen so. Aber nun konnten wir uns ganz auf die Auftritte und Diskussionen konzentrieren. Also wir haben volle Kirchen gehabt, in Erfurt, in Dresden, es war überwältigend. So ein Publikum bekommt man nie mehr! Man konnte eine Stecknadel fallen hören. Wir waren zur Umweltproblematik so gut wie die einzigen Liedermacher, und wir haben uns hinterher natürlich auch den Diskussionen gestellt.
Wir konnten uns ja beide auch fachlich schlagen zum Thema. Er war jahrelang Redakteur bei Natur und Heimat, er hatte das Landeskulturgesetz mit beraten, wir hatten jahrelang Eingaben gemacht – die sind jetzt übrigens auch Bestandteil des Museums in Brodowin –, also wir konnten uns problemlos schlagen zum Thema. Das war auch nötig, denn es saßen Funktionäre im Publikum, die stellten dann provozierende Fragen, die alle darauf hinausliefen, dass wir vom Westen beeinflusst sind und unsere Kritik eine am Sozialismus ist, an der ‚führenden Rolle der SED‘ und ihrer Umweltpolitik. Und was sie zur Weißglut brachte: Wir haben Bilder gezeigt – das tote Erzgebirge, die schaumbedeckte Mulde bei Dessau usw. Es war in der DDR streng verboten, solche Fotos zu machen, geschweige denn, sie einer Öffentlichkeit zu zeigen. Das Wort Waldsterben durfte nicht ausgesprochen werden, das hieß Forstumwandlung; mit derselben Absicht redet man heute euphemistisch vom Klimawandel. Das war übrigens auch so ein Lieblingsthema von Reimar, die Sprache. Er selbst sprach fast immer druckreif, ohne Floskeln, ohne diesen ganzen Bürokraten- und Funktionärsjargon, den vermied er ganz. Das war ungewöhnlich. Ich habe an seiner Seite erst gelernt, wie man eigentlich damit umgehen kann, wie man spricht und Sätze anders baut. Er hat, als er noch Journalist war, viel über das Parteichinesisch nachgedacht und nach einem Gespräch mit Viktor Klemperer und Gusti Lazar dann eine entlarvende Kritik des SED-Parteijargons geschrieben, mit dem Resümee: ‚Es gibt keine guten Gedanken in schlechter Sprache.‘
Solche abweichenden Betrachtungen waren natürlich nicht gern gesehen. Aber das war Reimar, er war anarchistisch geprägt. Seine beiden Eltern waren zudem Kommunisten. Er selbst hat gezeigt, dass er den Marxismus ernst nimmt. Zum 100. Geburtstag von Karl Marx 1983 hat er sich gut vorbereitet und hat die gesamten Bände der MEW gelesen und nach Zitaten durchforscht über den Umgang mit der Natur. Er schrieb dazu einen Vortrag – ‚Karl Marx über die Ethik des menschlichen Verhaltens zur Natur‘ – und trug ihn vor in Karl-Marx-Stadt, und sofort hat sich die Stasi damit befasst. Diesen Vortrag hat er immer wieder aufgegriffen und aktualisiert und ergänzt. 1985 schrieb er einen Vortrag ‚Sind wir Herren, Sklaven oder Kinder der Natur? Des Fragens Würdiges zur christlichen und marxistischen Ethik im Umgang mit der Erde‘. Auch diese Fassung wurde heimlich vervielfältigt und verbreitet in der DDR. Und es war einer der ersten Texte, die ich gelesen habe von Reimar, er ist mir durch Mark und Bein gefahren. Ich habe auch erlebt, wie er ihn vorgelesen hat, und damit bei Christen und Marxisten gleichermaßen, auf Ablehnung stieß.
Aber er bestand eben immer darauf, die Dinge genau zu nehmen. Es war diese Theorie, vor allem die Ethik, die er hatte – dieser unbedingte Pazifismus –, was mich beeindruckte. Und was mich auch beeindruckt hat: Er war ein Mensch, der mit beiden Beinen auf dem Boden stand. Er hat Holz hacken und einen Baum fällen können, er kannte die Tiere, wusste, welche Art da grade krabbelt oder singt – im Unterschied zu vielen ‚Ökos‘ –, er wusste, was man tut im Gartenbau, und hat das hier auch alles praktiziert.
Es war ja ein Zufall, dass er dieses Haus überhaupt gefunden hat, damals. 1971 hat er es gekauft, er musste aber vorher Bürger von Brodowin werden, das war Vorschrift. Und im Laufe der Zeit hat er eben das Dach gerichtet, Dielen eingezogen usw. Baumaterial zu bekommen war ja schwierig in der DDR. Dieses Haus ist übrigens 1933 von einem Grafiker gebaut worden, einem Herrn Sauer, der unter dem Künstlernamen Safis Werbeplakate oder so was gemacht hat, mit dem Sarotti-Mohr. Und dieser Grafiker wollte mit den Nazis absolut nichts zu tun haben. Aus diesem Grund hat er sich dieses abgelegene Haus gebaut, mit einfachen Mitteln, mit Keller und Werkstatt. Er hat von Ziegenzucht und Bienenhaltung gelebt. Deshalb stehen auch die großen Linden und Robinien überall, die waren Bienentracht. Nachdem Herr Safis starb – ich weiß nicht, wann –, wurde immer wieder mal jemand hier einquartiert, dann stand es länger leer. Den meisten Leuten liegt das zu einsam, hier gibt es nachts auch keinerlei Straßenbeleuchtung und nichts.
Uns hat grade das immer gefallen. Für Reimar war es anfangs aber schon ein Risiko, so aus der Berliner Existenz in die Einsiedlerexistenz hier herüberzuwechseln, ohne zu wissen, wovon genau er eigentlich leben wird. Er hat dann angefangen Bücher zu schreiben, hatte seine politische Arbeit und war froh über seinen Entschluss. Ich bin ja erst seit 85 mit drin, aber in dieser relativ kurzen Zeit, die wir hier miteinander hatten, in diesen 16 Jahren, haben wir sehr viel zusammen gemacht. Ich hätte wahrscheinlich nie Bücher geschrieben, wenn er mich nicht dazu ermuntert hätte. Es war erotisch wunderbar mit uns, und es war geistig wunderbar. Ich werde mich wohl nie daran gewöhnen können, dass er tot ist.“
Auf unsere Frage, wie sie die Wende mitvollzogen haben, sagt sie: „Reimar war durch seine Weltsicht natürlich relativ gelassen, er hatte ja schon mehrere Systeme untergehen sehen. Aber für mich war das unvorstellbar. Ich war zwar nie in der SED, aber trotzdem habe ich mich mit diesem Land identifiziert, wir haben hier eben unsere Kämpfe ausgefochten. Was uns aber sehr zu denken gegeben hat, war die Tatsache, dass wir uns auf einer dieser Isolierungslagerlisten gefunden haben, Reimar bekam seine Akten 1992 – ich ein Jahr später. Wir stehen beide, zusammen mit 80 anderen Leuten aus dem Bereich um Eberswalde, auf dieser Liste von Personen, die im Spannungsfall zu verhaften und zu internieren sind. Das alles trug auch noch die Kennziffer ‚KZ 413‘.
Na ja, der Weg der Gewalt wurde ja dann zum Glück nicht beschritten. Also, wir jedenfalls wollten keine Reform, keine Wende des Alten, wir wollten einen Neubeginn. Dass es aber so ablaufen würde, wie es ablief, hat eigentlich keiner von uns erwartet. Und keiner von uns hat gewollt, dass wir wie nebenbei geschluckt werden, vom kapitalistischen System, das ja eigentlich vom Sozialismus hätte überwunden werden müssen – nach der Theorie. Aber es war ja auch keine Revolution, es war irgendwo eine Implosion. Die neue führende Kraft innerhalb der alten Gesellschaft hatte gar keine Gelegenheit, sich zu entwickeln. Das Neue Forum hatte zwar viele Anhänger, aber keine Massenbasis – und auch keine wirkliche Strategie für das, was dann weiter geschehen sollte.
Wir haben ja beide am runden Tisch gesessen, Reimar und ich, und haben gesehen, wie alles wegbrach. Reimar hat sich dann auch an diesem Kuratorium für eine neue gesamtdeutsche Verfassung beteiligt – wie sie ja im Grundgesetz Artikel 146 vorgesehen ist für die Wiedervereinigung. Aber daraus wurde auch nichts, sondern es wurde nur der Anschluss vollzogen. Die neuen Bundesländer mussten exakt alles so übernehmen, wie es in den alten Bundesländern praktiziert wurde. Gut, Bürgerbewegung usw., das ist heute alles vorbei und vergessen.
Aber auch nach 18 Jahren noch spüre ich, dass ich mich mit diesem Land nicht identifizieren kann, dass es nicht mein Staat ist. Ich bin Zwangs-BRD-Bürgerin. Es kann ja gar nicht anders sein. Reimar hat es gelassen gesehen, er sagte: ‚Ich bin freischaffender Schriftsteller, und die Wende brachte uns die Freiheit von der Zensur. Nutzen wir sie!‘ Nur, es ist oft schwierig, in vielen Kreisen kann man gar nicht so reden, wie man möchte. Zum Glück habe ich einen sehr großen und angenehmen Freundeskreis, er stammt zum Teil noch aus Reimars Zeiten. Und neue Freunde kamen hinzu nach seinem Tod, durch meine Arbeit, Vereinsarbeit für den Bund für Naturvölker usw. Also ich habe da zum Glück einen Kreis Gleichgesinnter, der ist nicht gerade klein. Der existiert, und der versammelt sich ja auch ab und zu hier bei diesen neuen ‚Brodowiner Gesprächen‘, die ich nach Reimars Tod wiedereingeführt habe, hier im Haus. Gut … So, jetzt muss ich schnell den Küken was zu Essen geben, danach erzähle ich vom Bund für Naturvölker.“
Wir begleiten sie hinaus in den Garten, zu den selbst gebauten, fuchssicheren Hühnergehegen. Die Küken sind schon ziemlich groß und in heller Aufregung. Sie fassen sich ein Herz und fressen aus Hannelores Hand, flattern auf ihr Knie und fliehen vorsichtshalber gleich wieder zur abseits pickenden Glucke. Der Hund möchte auch hinein in den Stall und richtig aufräumen, wird aber zur Ordnung gerufen. Wir kehren bald wieder ins kühle Haus zurück.
Unsere Gastgeberin macht frischen grünen Tee und setzt ihre Erzählung fort: „Was ich sonst noch so mache? Also, große Freude macht mir das Auftreten vor den Kindern mit meinem Ökoprogramm ‚Rechenmeister, Rechenmeister …‘. Die Kinder finden sehr viele Antworten auf die Frage, was alles zählt. Und dann mache ich Bücher, mein letztes kam 2004 heraus, es ist das biografische Selbstbildnis von Reimar ‚Wer im Gleichschritt marschiert, geht in die falsche Richtung‘. Ich habe es zusammen mit Harro Hess gemacht. Und grade sitze ich am ersten Band einer Trilogie ‚Märchen der Ureinwohner‘. Zweimal jährlich mache ich die Zeitschrift Bumerang. Und jetzt komme ich zum Bund für Naturvölker, den ich 1994 mitbegründet habe – er ist aus einem anderen Verein hervorgegangen, und er hat den Zweck, durch Öffentlichkeitsarbeit und die Schaffung von Hilfsprojekten, indigene Kulturen zu unterstützen. Der Bumerang kommt seit 1994 heraus, und ich bin die Chefredakteurin.“ Sie lacht. „Kleiner Witz, es gibt keine weiteren Redakteure. Bis heute mache ich hier im Haus die Redaktion und alles, bis hin zur layoutgerechten Fertigstellung. Ein Schwerpunkt zum Beispiel war und ist das Gesundheitsprojekt Uirapuru für Indios in Brasilien, das wir mit Spendengeldern unterstützen, mit dem wir freundschaftlich verbunden sind, über das wir fortlaufend berichten. Ich war 1997 dort, habe das Projekt besucht, war in einem Dorf im Regenwald und habe das Erfahrene in meinem Buch ‚Hochzeit an der Transamazônica‘ aufgeschrieben.
Also der Bumerang befasst sich mit der Lage der ‚Naturvölker‘ weltweit und wirft auch kritische Blicke auf die Missions- und Kolonialgeschichte. Insofern sind die indigenen Völker seit eineinhalb Jahrzehnten mein Arbeitsgebiet. Es gibt ungefähr noch 5.000 Völker – der Begriff ist wichtig zur Inanspruchnahme des Völkerrechtes, zum Beispiel gegen Ölkonzerne. Das sind etwa 300 Millionen Menschen weltweit, eine absolute Minderheit. Und von diesen 300 Millionen leben etwa 150 Millionen, so wird geschätzt, in sogenannten Stammesgesellschaften.
Also sie leben in kleinen Gemeinschaften, vorwiegend als Jäger, Sammler, Fischer. Es sind die letzten kleinen Jäger- und Sammlerkulturen der Welt, sie leben noch die Urform des Kommunismus. Die haben nie anders gelebt als in Urkommunismus und Urdemokratie. Bei diesen Kulturen gibt es kein feindschaftliches Verhältnis zur Natur, sie haben gemeinschaftliche Besitzverhältnisse und das Konsensprinzip bei allen Entscheidungen statt der bei uns üblichen Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse. Sie sind mit den schwierigsten Bedingungen zurechtgekommen, nur nicht mit denen der weißen Eroberer.
Man muss sich wirklich klar machen, wie gefährdet sie sind, wie dezimiert, was ihnen historisch angetan wurde und was ihnen heute angetan wird. Dass sie immer weiter eingeengt und verdrängt werden durch illegalen Holzeinschlag, durch das Vordringen von Goldsuchern und Viehzüchtern, durch Erdölgesellschaften oder irgendwelche Staudammprojekte. Jetzt sind es auch immer mehr von diesen sogenannten Biodieselproduzenten, die den Regenwald roden, das Tropenholz verkaufen und auf den Rodungen dann Palmölplantagen anlegen, um aus den Ölfrüchten Biodiesel zu produzieren. Also es sind furchtbare Faktoren, die durch unsere Kultur auf diese Völker einwirken. Das Einzige, was wir tun können, ist, zusammen mit anderen, darüber aufzuklären und Protest und Hilfe zu organisieren. Wir müssen wissen, dass wir durch unsere Lebensweise natürlich Bestandteil des Problems sind. Reimar sagte immer: ‚Man kann nur eins machen: das persönliche Schuldkonto, das jeder hat, so klein wie möglich zu halten.‘ “