piwik no script img

Archiv-Artikel

Lasst sie leben!

Die Tage und Wochen sind durchgetaktet, die Zukunftserwartungen an den Nachwuchs hochgeschraubt, Egoismus und soziale Abgrenzung programmiert. Und jetzt dürfen wir Eltern künftig auch noch ganz allein entscheiden, dass der Sprössling aufs Gymnasium geht. Wer schützt die Kinder eigentlich vor uns? Eine Brandrede

von Rainer Nübel

Die Jugend ist unsere Zukunft. Kein Pädagoge, der müde wird darauf hinzuweisen. Kein Elternpaar, das sich dessen nicht bewusst wäre. Kaum ein Bildungspolitiker, der diese Binsenwahrheit nicht schon in einer Fensterrede bemüht hätte. Und warum machen wir dann den Kindern und Jugendlichen so viel Angst vor der Zukunft?

Hinter dieser Frage stehen zig andere Fragen. Nur mal die Worst-of-Liste: Warum trichtern wir den Kindern und Jugendlichen ein, nur mit sehr guten Schulnoten bekämen sie später einmal einen tollen Job mit tollem Verdienst? Und natürlich mit Durchsetzungsvermögen, gesundem Egoismus und spitzen Ellenbogen, die schon mal auch zustoßen dürfen? Warum bekommen wir schon Panik, wenn die eine oder andere Klassenarbeit verhauen wird? Oder wenn der Nachwuchs gar mit der Schnapsidee daherkommt, irgendein Orchideenfach wie Kunstgeschichte oder Germanistik studieren oder später eine andere brotlose Kunst ausüben zu wollen? Warum beschwören wir sie dauernd, ja immer nach vorne zu blicken und auf dem Weg zu bleiben, auf dem Erfolgsweg natürlich? Warum loben wir sie für Dinge, die eigentlich selbstverständlich sind?

Schüler auf dem Egotrip – ihrer Eltern

Und warum kritisieren wir Lehrer, hetzen vielleicht sogar Anwälte oder mindestens den Rektor auf sie, wenn sie den Filius oder das Töchterlein kritisiert haben, und zwar völlig zu Recht? Warum können ganz sicher nur die anderen gemeint sein, wenn Psychologen feststellen, dass es vielen Kindern und Jugendlichen an Empathie mangele? Und warum, verdammt noch mal, dürfen wir in Baden-Württemberg bald auch noch ganz allein entscheiden, dass der Sprössling aufs Gymnasium geht, auch wenn die Grundschullehrerin dringend davon abrät?

Ja, ich rege mich künstlich auf. Weil es Zeit wird. Weil es an der Zeit ist zuzugeben, dass wir nur das Beste für unsere Kinder wollen – und es gründlich versauen. Weil es eigentlich nur um uns selbst geht. Wie sonst lässt sich etwa erklären, dass es Eltern gibt, die ihre Kinder in der vierten Grundschulklasse nicht mehr mit deren Freunden spielen lassen, weil die künftig „nur“ auf die Hauptschule gehen werden und das eigene Kind, natürlich, aufs Gymnasium?

Das ist keine Szene aus einem Social-Horror-Film, sondern pure Realität. Sogar auf dem flachen Land, im pittoresken Bürgeridyll. Als Elternvertreter hat man die große Chance, solche Grotesken erleben zu dürfen. Sie spielen sich vornehmlich in sozialbildungsfernen Schichten ab, sprich: im gehobenen Mittelstand. Frühzeitige Abgrenzung ist alles, für die künftige Karriere des Kindes bedarf es nützlicher Kontakte. Gleichgültig ob das Kind heult, weil es eine enge Freundin oder einen wichtigen Freund verloren hat. Es geht ja nur um sein Wohl. Das wird es bald auch kapieren. Und später dankbar dafür sein.

Man darf es vermuten: Fällt die Grundschulempfehlung, wie es die derart bürgernahe grün-rote Landesregierung entschieden hat, geht's in die Vollen. Dann wird auch mittelstandsbewussten Eltern mittelbegabter Mittelstandskinder schlagartig auffallen, dass sie eigentlich kleine Genies zu Hause haben. Und nix wie hin aufs Turbogymnasium. Freie Bildungsfahrt für freie Bürger. Auch wenn sie für das Kind zum grandiosen Crash führt. In der siebten Klasse. So, wie es die blöde Grundschullehrerin vorhergesagt hatte. Die ja keine Ahnung hat. Und auf die man, zum Glück, nicht mehr zu hören braucht. Schon wieder heult das Kind. Dabei geht es doch nur um sein Wohl. Das wird es bald auch kapieren. Und später dankbar dafür sein.

Manchmal versagt jegliche ironische Distanz. Und jeder Sarkasmus. Das Bekenntnis der Tübinger Gymnasiastin schockierte und berührte zugleich. In ihrem Oberstufenkurs wurde gerade heftig diskutiert, es ging um ein Buch, in dem Egoismus, Ellbogendenken und Größenwahn in der Gesellschaft angeprangert wurden. „Klar ist es nicht gut, nur an sich zu denken und so auch zu handeln“, sagte die 17-jährige Schülerin. „Doch uns wird von so vielen Seiten eingebläut: Du musst egoistisch sein, sonst überholen dich die anderen. Und da geht man eines Tages tatsächlich auf den Egotrip.“ Sie schaute hilflos, zuckte mit den Schultern.

Vielleicht sollte man doch mal den kühnen Gedanken wagen, dass Lehrer ab und zu recht haben. Wenn sie etwa berichten, dass das Sozialverhalten von Schülern häufig zu wünschen übrig lasse. Dass sie sich mitunter nicht mehr trauen, Störenfriede zurechtzuweisen, weil dann die lieben Eltern gleich auf der Matte stehen. Dass sie es leid sind, den pädagogischen Reparaturbetrieb zu geben, an Eltern statt. Dass nicht wenige Schüler Verhaltensauffälligkeiten haben. Eine Info für alle passionierten Freunde der Grundschulempfehlungs-Abschaffung: Wir sprechen gerade vom Gymnasium.

Nach der Klausur ist vor der Klausur

Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir. Auch so eine Sentenz, die nur noch für Satiriker Realität ist. Wann sollen Schüler das Leben lernen, nach einem voll gepfropften G-acht-Stunden-Tag vielleicht? Straight away, immer schön auf dem Weg bleiben, ja keine Kurve machen. Oder gar eine zusätzliche Runde. Umwege verboten. Wer nach dem Abitur an der Uni oder Hochschule seinen Bachelor macht, genießt da einen kolossalen Vorteil: Er muss sich so gut wie nicht umgewöhnen – der Lernstoff bleibt das Maß aller Dinge, der Tag und die Woche völlig durchgetaktet, das Leben eine Utopie. Nach der Klausur ist vor der Klausur.

In Tübingen klagen Kneipenbesitzer, sie bekämen immer schwerer studentische Bedienungen. Der Grund: „Sie müssen lernen, bis in die Nacht hinein.“ Späte Bildungs-Schichten. Als ob es kein Morgen gebe. Und künftig keinen gut bezahlten Job, von dem die Eltern immer erzählt haben. An Hochschulen kamen schon ernste Beschwerden von Studenten: Der Dozent sei nicht pünktlich um acht Uhr gekommen, sondern fünf nach acht. Wir sprechen von acht Uhr morgens. So weit ist es gekommen.

Menschenskinder, lasst sie leben!