Lang her ist‘s mit der Meisterschaft

Morgen wird mit dem Eimsbüttler Turnverein einer der traditions- und lange Zeit erfolgreichsten Fußballvereine Norddeutschlands 100 Jahre alt. Vom Leistungs-Fußball hat sich der Club inzwischen verabschiedet – zu Gunsten von Breitensport und Jugendarbeit

„Wenn ich den letzten Goethe-Vers vergessen habe, werde ich den Eimsbütteler Sturm noch aufzählen können“ (Walter Jens)

von Folke Havekost

Für zwei Stunden ist Richard Wenzing vom Festakt verschwunden. Die Fußballer des Eimsbütteler Turnvereins (ETV) feiern mit 200 Gästen ihren 100. Geburtstag, aber die 120 Minuten zwischen der Festrede des Tübinger Rhetorik-Professors Walter Jens und dem Erinnerungsaustausch alter Spieler-Legenden muss Wenzing auslassen. Als er ins Festzelt zurückkehrt, trägt er eine frohe Botschaft im Gepäck: Die von ihm trainierte D-Jugend des ETV hat das Jugendteam des Hamburger Sportvereins 2:1 bezwungen und sich damit die Qualifikation für die nächsthöhere Nachwuchs-Spielklasse gesichert.

Ein perfektes Ergebnis für die Feierstunden am vergangenen Sonnabend, in denen der in Hamburg-Eimsbüttel aufgewachsene Jens an ein Spiel aus dem Jahr 1934 erinnert hat: ETV gegen HSV 8:3. Ein Paukenschlag, stellvertretend für die 30er Jahre, die große Zeit der Eimsbütteler: Von 1934 bis 1936 wurde der ETV dreimal in Folge Meister der Gauliga Nordmark aus hamburgischen, schleswig-holsteinischen und mecklenburgischen Vereinen. Eine deutschlandweite Spielklasse gab es damals noch nicht.

Einst einer der stärksten Vereine im Norden

Bis in die fünfziger Jahre hinein gehörte der ETV zu den stärksten Fußballvereinen Norddeutschlands. In dem ersten halben Jahrhundert ihres Bestehens waren die ETV-Kicker 49 Jahre lang erstklassig – eine Bilanz, die in diesem Zeitraum in Hamburg sonst nur der HSV erreichte. Fünf Eimsbüttelern gelang zwischen 1910 und 1942 der Sprung in die deutsche Auswahlmannschaft. Walter Jens, der einst als Torwart beim ETV spielte, setzte den Heroen seiner Jugendtage ein rhetorisches Denkmal: „Derle Ahlers, Otto Rohwedder, Herbert Panse, Kalli Mohr und Hanno Maack – wenn ich den letzten Goethe-Vers vergessen habe, werde ich den Eimsbütteler Sturm noch aufzählen können.“

Am morgigen Freitag nun begehen die Kicker im Turnverein offiziell ihren 100. Geburtstag: Am 12. Mai 1906 trafen sich Eimsbüttels Rundleder-Pioniere erstmals in der „Räucherkate Schöning“, neben der passenderweise ein Schuhwarengeschäft „Fußballstiefel in bester Ausführung“ feilbot. Vorausgegangen war ein Jahrzehnt, in dem beim ETV zwar schon gegen den Ball getreten wurde, was sich aber auf Freundschaftsspiele gegen andere Mannschaften, zumeist aus den Reihen der Deutschen Turnerschaft, beschränkte.

Die Gründung einer eigenen Fußballabteilung war ein notwendiger Modernisierungsschritt. Ohne die Teilnahme an Meisterschaftsspielen drohte den Eimsbüttelern der Abgang ihrer besten Spieler. Verteidiger Hermann Neiße, der 1910 zum ersten DFB-Auswahlspieler des Vereins werden sollte, hatte zwischendurch bereits das zitronengelbe Jersey des benachbarten SC Victoria übergestreift, der schon lange um Punkte und Titel stritt.

Der ETV wurde der erste Hamburger Turnverein, der am Liga-Spielbetrieb teilnahm. Während der norddeutsche Verband den Neuling sofort in die höchste Liga einstufte, stieß das Vorgehen im Turnerlager auf große Skepsis: Fußball, so lautete eine weit verbreitete Meinung unter den Jüngern von „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn, war als englischer Import keine angemessene Ertüchtigung eines deutsch(national)en Mannes – galt doch Großbritannien als größtes Hindernis für den von Kaiser Wilhelm II. anvisierten Griff zur Weltmacht. „Eingefleischten Turnern in anderen Vereinen erschien unser Schritt geradezu unerhört“, erinnerte sich der Frühzeit-Fußballer Otto Laplace an die Vorbehalte im Turnerlager, das sich zudem über die Bein zeigenden Kniehosen der Kicker echauffierte.

Die Pionierleistung indes wurde schnell belohnt: 1914/15 gewannen die in Rot und Weiß gekleideten Eimsbütteler ungeschlagen die Hamburger Meisterschaft – zu einer Zeit, als sich einzelne Kicker schon vermeintlich „rasch und freudig zu den Fahnen“ begeben hatten, wie ETV-Gründungsmitglied Gustav Weymar den Beginn des Ersten Weltkriegs verklärte.

Nach dem Ende von Krieg und Kaiserreich errichtete der ETV auf seinem Sportplatz an der Hamburger Hoheluft eine moderne Holztribüne – und baute auf seinen Nachwuchs, der sein Können bei einem 21:0 gegen die Erste Jugend des HSV 1927 nachdrücklich demonstrierte. Eine um so wichtigere Ressource bei einem Verein, der – das war als Erbe der Turnbewegung geblieben – das Amateurideal hochhielt.

Intern wurde über eine Wahlwerbung der rechtskonservativen Deutschnationalen Volkspartei gestritten, die gegen den Willen des Redakteurs in die Vereinszeitung gehoben worden war. Das politische Spektrum innerhalb des ETV erschien derweil breit: ein turnerisch- konservatives Traditionsbewusstsein, das dem im holländischen Exil weilenden Kaiser nachtrauerte, fand sich ebenso wie progressive Anschauungen, die im Arbeiterstadtteil Eimsbüttel weite Verbreitung gefunden hatten. Über allem thronte jedoch das bürgerliche Leitbild vom Sport als unpolitischem Zeitvertreib.

Auch die bürgerlichen, also im DFB organisierten Vereine, waren den Nationalsozialisten zumindest prinzipiell ein Dorn im Auge. NS-Schriftsteller Bruno Malitz wetterte gegen das „Geschäft von Vereins-Unternehmern“ und geißelte den „sinnlosen Vereinsfanatismus“ als „liberalistisch“. Da die bestehenden Vereine mit ihrer oft eilfertigen Unterordnung kein Gefahrenpotenzial boten, verzichteten die Nazis auf weitere einschneidende Maßnahmen.

Die größten Erfolge im „Dritten Reich“

Die größten sportlichen Erfolge der ETV-Kicker fielen in die Zeit zwischen 1933 und 1945. Dabei passte der Großverein mit seinen zahlreichen Abteilungen, der trotz Zahlungen einiger „Gönner“ den Profisport offiziell ablehnte, weit besser ins Bild der NS-Machthaber als etwa der sehr leistungsorientierte HSV, der seine Spieler nicht allein von der eigenen Scholle gewann.

Inwieweit dies die ETV-Erfolge förderte oder ermöglichte, entzieht sich der historischen Beurteilung – zumal der DFB auch zu Zeiten der Weimarer Republik am Ideal des Amateursports festhielt und Vereine, die zu offensichtlich auf Zuwendungen an ihre Spieler setzten, mitunter drakonisch bestrafte. Fest steht, dass die Eimsbütteler Fußballer in den jungen Jahren Walter Jens‘ in Norddeutschland nur zwei Gegner zu fürchten hatten: die Mannschaften des HSV und von Werder Bremen; letztere hatten in fünf Endrunden-Spielen um die deutsche Meisterschaft fünfmal die Nase vorn. Die Waggons der Straßenbahn-Linie 2 waren gefüllt, wenn der ETV am Lokstedter Steindamm seine größten Rivalen erwartete. Der Zuschauerrekord liegt bei 24.000, aufgestellt beim Gastspiel des HSV am 20. März 1938.

Früh-Nationalspieler Hermann Neiße, der schon 1932 an den Folgen einer Blinddarmoperation gestorben war, erhielt vier Nachfolger im Nationaltrikot: Otto Rohwedder, ein bulliges Enfant terrible, der Gegenspielern schon einmal in den Hintern trat, um sich nach dem Schlusspfiff am Tresen wieder zu versöhnen. Herbert Panse, ein schmächtiger Mittelstürmer, der Rohwedders Vorlagen mit traumwandlerischer Sicherheit verwandelte. Erwin Stührk, ein blonder Wuschelkopf, der nur „Ebbe“ genannt wurde und als Verteidiger mit Offensivqualitäten brillierte. Und schließlich Hans Rohde, der als Mittelläufer den Beinamen „der Eiserne Hans“ trug und mit insgesamt 25 Länderspiel-Einsätzen lange Hamburgs Rekordnationalspieler war.

Während des Zweiten Weltkriegs ergänzten zwei weitere Nordmark-Meisterschaften 1940 und 1942 die Eimsbütteler Titelsammlung. Als Deutschland 1945 befreit war, lag die Tribüne in Trümmern, das britische Besatzungspersonal requirierte zunächst das Stadiongelände. Erwin Stührk war beim Angriff auf die Sowjetunion gestorben, Hans Rohde befand sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Angeführt von den Manja-Brüdern Kurt und Karl-Heinz zählte der ETV zwischen 1948 und 1956 in der Oberliga Nord noch zur Spitzenklasse. Doch als am 50. Geburtstag als Tabellenletzter der Abstieg aus der höchsten Liga anstand, war die Zeit des erstklassigen Fußballs im ETV vorbei.

Als 1959 doch noch einmal ein Anlauf unternommen wurde, rechnete der Vereinsvorstand Verluste von bis zu 60.000 Mark im dann nicht eingetretenen Aufstiegsfall aus – die Ära des deutschen (Voll-)Profifußballs fand fortan ohne die Eimsbütteler statt.

Wichtiger Akteur der sportlichen Sozialarbeit

Ihre vortreffliche Nachwuchsarbeit produzierte allerdings immer wieder Talente wie etwa den heutigen St. Pauli-Spieler Jens Scharping, die es bis in die Fußball-Bundesliga schafften. Mit über 600 Jugendlichen besitzt Eimsbüttel auch heute noch eine der stärksten Nachwuchsabteilungen im Hamburger Fußball. Mit dieser intensiven Jugendfußball-Betreuuung gehört der Verein in der Gegenwart zu den wichtigsten Akteuren spielerisch-sportlicher Sozialarbeit in dem dichtbesiedelten Hamburger Innenstadtviertel.

Bei den ETV-Heimspielen verlieren sich in diesen Tagen selten mehr als 50 Besucher an der Hoheluft, wenn die Nachfahren von Rohde & Co. gegen den Abstieg aus der sechstklassigen Landesliga kämpfen. Unter der Federführung von Geschäfstführer Frank Fechner, der bis zum vergangenen Jahr die Geschicke des Drittligisten FC. St. Pauli maßgeblich lenkte, wird der ETV in einen modernen Breitensport-Verein verwandelt, was einem Höhenflug der Fußballer enge Grenzen setzt. „Vorbei, die Eimsbüttler Tage“, hat es Jubiläumsgratulant Walter Jens einmal wehmütig formuliert. Dabei ist der Verein eigentlich nur zu seinen Wurzeln zurückgekehrt: als Stadtteilverein für Jung und Alt.