: Landgericht ließ Vergewaltiger frei
■ Einschlägig Vorbestrafter überfiel erneut Frau/ Richter sahen keine Wiederholungsgefahr
Die Nacht auf den 5. Juni 1995 wurde für die 19jährige Martina W. (Name von der Redaktion geändert) zu einem Alptraum: Gegen ein Uhr steht plötzlich der 29jährige Michael N. in ihrer Wohnung. Mit Schlägen zwingt er die junge Frau, sich auszuziehen und belästigt sie sexuell. Anschließend schubst er Martina W. – so die Aussage der jungen Frau – aus dem offenen Fenster. Sieben Meter tief fällt sie und prallt auf den Betonboden des Hinterhofes (sieht taz 1.5). Wirbelsäulenbruch. Mehrere Operationen. Wochenlange Krankenhausaufenthalte sind nur die äußerlich erkennbaren Folgen dieser Straftat. Einer Straftat, die die Justiz hätte verhindern können. Michael N. war wenige Monate zuvor vom Landgericht Verden wegen Vergewaltigung zu fünf Jahren Haft verurteilt worden. Zur Tatzeit hätte er in Haft sitzen können – das wurde gestern am Rande der Gerichtsverhandlung bekannt. Warum er sich trotzdem auf freien Fuß befand, bleibt unklar.
Michael N. ist einschlägig vorbestraft: 1989 wurde er das erste Mal verurteilt. Er hatte eine Frau gezwungen, mit ihm zu kommen. Die Frau schrie – Passanten eilten ihr zur Hilfe. Eine sexuelle Motivation konnte das Gericht nicht erkennen. N. wurde wegen Nötigung verurteilt. Danach stand er wegen anderer Delikte mehrfach vor Gericht und wurde verurteilt.
1994 vergewaltigte er ein 19jähriges Mädchen. Als ihm vor dem Landgericht Verden der Prozeß gemacht wurde, saß N. in Haft. Er hatte die Geldstrafen für die kleineren Delikte nicht bezahlt und verbüßte eine Ersatzfreiheitsstrafe. Das Landgericht Verden verurteilte N. wegen der Vergewaltigung zu fünf Jahren Haft. Als das Urteil verkündet wurde, saß N. noch immer im Knast. Er hatte jedoch nur noch wenige Wochen abzusitzen. Per Haftbefehl hätten die Richter verhindern können, daß N. wieder auf freien Fuß gesetzt wird. Sie taten es nicht. Ein folgenschwerer Fehler – wie sich später herausstellte: Im Juni, nur sieben Monate nach seiner Verurteilung wegen Vergewaltigung, überfiel N. die 19jährige Martina W.
Dabei hätten die Richter durchaus die Möglichkeit gehabt, N. nach Paragraph 112 der Strafprozeßordnung wegen Fluchtgefahr, Verdunkelungsgefahr oder wegen Wiederholungsgefahr zu inhaftieren. Die zu erwartende Freiheitsstrafe von fünf Jahren hätte als Fluchtgrund interpretiert werden können. Auch die Wiederholungsgefahr wäre erkennbar gewesen. N. war im ersten Fall zwar nicht wegen sexueller Nötigung verurteilt worden. Die Umstände der Tat hätten jedoch darauf schließen lassen, daß N. möglicherweise vor hatte, die Frau zu belästigen, wären ihr nicht die Passanten zur Hilfe gekommen.
Doch all diese Überlegungen stellten die Richter offenbar nicht an. Keine Fluchtgefahr. Keine Wiederholungsgefahr. Die Juristen interpretierten die Buchstaben des Gesetzes zugunsten des Angeklagten. Erst am 14. Juli, fünf Wochen nachdem er Martina W. überfallen hat, wird N. verhaftet, um die fünf Jahre wegen Vergewaltigung zu verbüßen.
Von der Pressestelle des Landgerichts Verden war gestern keine Stellungnahme zu bekommen. Ob das in der nächsten Zeit geschehen kann, ist fraglich: Die Akten über den Vergewaltigungsprozeß liegen derzeit in Bremen. Martina W. wird die Stellungnahme des Landesgerichts nichts mehr nützen. Sie leidet unter Schlaflosigkeit und Angstzuständen.
Seit dem Sturz humpelt sie und ob sie je wieder richtig laufen können wird, kann ihr Zeit kein Arzt beantworten.
kes
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