: Lästiges Vaterland
Intellektuelle und Künstler zwischen Kriegsbegeisterung und Erwachen: Ein „kollektives Tagebuch“ dokumentiert private Reflexionen zum Ersten Weltkrieg von Walter Benjamin über Karl Kraus bis Cosima Wagner
Im Sommer 1914 tobte die Furie der Kriegsbegeisterung durch Deutschland. Auch und gerade die „gebildeten Stände“, Gelehrte, Schriftsteller, Künstler begrüßten fast unisono rückhaltlos den Krieg. Er galt ihnen als Ausweg aus der Erschlaffung, der Geistlosigkeit und dem flachen Materialismus, für die angeblich die lange Friedensperiode seit dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 verantwortlich gewesen war.
In dem Maße, in dem sich die Fronten des Krieges verhärteten, ein rascher Sieg nicht mehr zu erwarten war und die Verlustziffern an Menschenleben sich ins Gigantische schraubten, schwand der Enthusiasmus der deutschen Bildungselite. Allerdings meist ohne die Konsequenz kritischer Selbstbesinnung und radikaler Umkehr.
Der Schriftsteller und Ausstellungsmacher Peter Walther hat es unternommen, diesen historischen Prozess von der Besoffenheit zum Katzenjammer, also der Zeit von 1914 bis 1918 in dem Werk „Endzeit Europa“ nachzuzeichnen. Er tut dies in Form einer Art „kollektiven Tagebuchs“. Er stellt Briefe und Tagebucheintragungen chronologisch geordnet zusammen, wobei er ausschließlich Texte ausgewählt hat, die später von den Autoren nicht bearbeitet wurden. Geschickt hat er sich bei diesem Verfahren auf ein Dutzend Protagonisten gestützt, die den Leser über die Lektüre der Dokumente hinweg begleiten.
Wir nehmen Kenntnis von der keineswegs dogmatisch-hölzernen Haltung überzeugter Kriegsgegner wie Gustav Landauer und Karl Liebknecht, werden über die zwiespältige Haltung Gerhart Hauptmanns zum Krieg unterrichtet, quälen uns durch den langsamen Ernüchterungsprozess bei Thomas Mann, um schließlich bei den obstinaten Kriegsverherrlichern wie Richard Dehmel zu landen. Am meisten beeindrucken Korrespondenzen wie die von Stefan Zweig oder Sigmund Freud, wo der Pessimismus der Vernunft nie die humane Weltsicht beiseite drängt.
Politisch besonders aufschlussreich sind die Tagebucheintragungen Kurt Riezlers, eines 1914 noch jungen Altphilologen, der zum Vertrauten und Freund des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg in den ersten drei Kriegsjahren wurde. Riezler war ein scharfsinniger, genau beobachtender Konservativer, seine Tagebücher bilden eine wichtige Quelle zur Beantwortung der Kriegsschuldfrage. Allerdings ist ihre Authentizität umstritten, ein Umstand, auf den Walther besser hingewiesen hätte.
Alle Quelleneditionen dieser Art sehen sich dem Problem gegenüber, in welchem Umfang die Dokumente zu kommentieren sind. Der Herausgeber hat darauf verzichtet, die jeweiligen Briefpartner vorzustellen. So bleibt es dem Leser überlassen, die oftmals verschlungenen Wege nachzuvollziehen, die Briefautoren und Adressaten miteinander verbanden.
Die dem Band beigefügte Strecke früher Farbfotos vom Krieg erweist sich als echte Trouvaille. Die Fotos stammen von dem technikbegeisterten Hans Hildenbrand, einige auch von seinem französischen Gegenpart Jules Gervais-Courtellemont. Hildenbrands Fotos wurden zum Teil als Postkarten verwandt und haben fast durchwegs einen gestellt steifen, propagandistischen Charakter. Nur manchmal, angesichts zerstörter Städte oder einer Familie auf der Flucht wird der Schrecken des Krieges nachvollziehbar. CHRISTIAN SEMLER
Peter Walther: „Endzeit Europa. Ein kollektives Tagebuch deutschsprachiger Schriftsteller, Künstler und Gelehrter im Ersten Weltkrieg“. Wallstein Verlag, Göttingen 2008, 432 Seiten, 29 Euro