Ladenschluss in Hamburg-Mitte: Bezirk killt Kioskkultur
"Das können die nicht ernst meinen": Seit Wilhelmsburg zum Bezirk Mitte gehört, fordern die Behörden die Kioske im Stadtteil auf, sonntags zu schließen. Als man noch zu Harburg zählte, war das kein Thema.
HAMBURG taz | Tekin Kara ist mit Leib und Seele Kioskbetreiber. Seit 18 Jahren steht der 46-jährige Türke an seiner Klappe, verkauft Zigaretten und Süßigkeiten, Bier und Kaffee, hört sich die Geschichten seiner Kunden an - und ihre Sorgen. Nun hat er selbst große Sorgen, seit er im Februar unerwartet Besuch vom Verbraucherschutzamt des Bezirks Mitte bekommen hat. "Die waren hier und haben alles fotografiert", erzählt Kara. Kurz darauf bekam er ein Schreiben mit dem Hinweis, dass seine angemeldete "Trinkhalle" gar keine sei und er deswegen sein Gewerbe "anpassen" müsse.
Für Kara würde das bedeuten, dass er am Sonntag, wo er seinen Hauptumsatz macht, nicht mehr aufhaben dürfte. "Wie kann das sein, dass das nach 18 Jahren auf einmal nicht mehr gehen soll?", fragt sich Kara und sagt solche Sachen wie: "Die wollen einem wohl nur Angst machen", oder: "Nie hat man Ruhe."
Kara, der mittlerweile Hilfe bei einem kundigen Rechtsanwalt gesucht hat, ist mit seinem Problem nicht allein. Auch andere Kioske im Wilhelmsburger Reiherstiegviertel haben bereits Besuch vom Verbraucherschutzamt bekommen, mit den gleichen Aufforderungen.
Kiosk ist kein rechtlicher Begriff. Das aus dem Persischen stammende Wort bezeichnet ein freistehendes Häuschen. Weil die Presse Ende des 19. Jahrhunderts solche Kioske zum Verkauf nutzte, hat sich das Wort auf Verkaufsstellen für Zeitungen und die typischen Begleitprodukte übertragen.
Trinkhallen stellten Mineralwasserfabrikanten Mitte des 19. Jahrhunderts in deutschen Städten auf, um ihr Wasser unter die Leute zu bringen.
Laut Paragraf 3 des Gaststättengesetzes sind Trinkhallen "Schankstätten an öffentlichen Wegen, Straßen oder Plätzen, bei denen der Ausschank durch Schalter oder über Tische an Stehgäste betrieben wird. Sie besitzen keine Einrichtungen für die Bequemlichkeit oder den längeren Aufenthalt von Gästen."
In Arbeitergegenden wurden besonders viele Trinkhallen aufgestellt, um die Arbeiter vom hohen Alkoholkonsum abzuhalten. Dass die Trinkhallen heute als Kioske hauptsächlich vom Alkohol leben, scheint eine Art Ironie der Geschichte.
Kioskhochburgen sind das Ruhrgebiet, Delmenhorst, Flensburg und Harburg.
Zum Objekt von Kunst und Kultur ist das "Büdchen", wie der Kiosk vor allem im Ruhrgebiet auch genannt wird, mittlerweile geworden. In der Trinkhallen-Metropole Dortmund hat sich im Sommer 2006 der 1. Kioskclub gegründet, der Aktivitäten rund um den Kiosk wie Ausstellungen, literarische Verarbeitungen, Fotobände sammelt. DHA
So zum Beispiel Muhammad Baydur vom Kiosk 42, der genauso fassungslos ist wie Kara: "Das können die nicht ernst meinen, dass die freiwillig auf so viel Steuereinnahmen verzichten wollen", sagt Baydur, während er Zigarettenpackungen ins Regal räumt. Ungläubig fragt er: "Was bislang vollkommen legal ging, soll nun verboten sein?" Sein Kollege Karan überlegt, ob das wohl mit der Internationalen Bauausstellung 2013 zu tun hat, dass Kioske und das Kioskpublikum "nicht mehr schick genug für Wilhelmsburg" sind.
Was nun konkret den Anlass gegeben hat, die Kioske zu kontrollieren, und ob auch tatsächlich jeder der rund 25 Wilhelmsburger Kioske kontrolliert wird, ist aus dem Bezirksamt Mitte zurzeit nicht zu erfahren. Die Pressestelle lässt wissen, sie warte auf die Antwort von Mitarbeitern, die derzeit nicht im Haus seien.
Fest steht, dass im Verbraucherschutzamt Mitte die Kioske ganz anders behandelt werden als im Bezirk Harburg, zu dem Wilhelmsburg bis 2008 gehörte. Nur in Harburg gibt es die Konzessionsart der Trinkhalle, die Mitte "nie benutzen" würde, wie ein Mitarbeiter aus dem Verbraucherschutzamt energisch betont.
"Eine Trinkhalle ist eine Sonderform der Gaststätte und kann deswegen andere Öffnungszeiten haben", sagt eine Mitarbeiterin aus dem Verbrauchschutzamt Harburg. Warum gerade Harburg Trinkhallen konzessioniert und die anderen Bezirke nicht, entzieht sich ihrer Kenntnis. "Die Trinkhalle ist eine Harburgensie, die es gibt, seit ich denken kann", sagt die Mitarbeiterin, die nicht namentlich genannt werden will, da ja für Presseanfragen allein die Pressestelle zuständig ist.
"In Harburg waren die mit Trinkhallen sehr kulant", sagt Mehmet Zoroglu, der seit 16 Jahren seinen Kiosk in der Thielenstraße im Wilhelmsburger Bahnhofsviertel führt. "Die wollten, dass die vielen Hafenarbeiter in Harburg und Wilhelmsburg vor und nach ihrer Schicht noch einkaufen konnten", sagt der 52-Jährige, der sich seinen Kunden persönlich eng verbunden fühlt. Auch er kann es nicht fassen, dass diese für Wilhelmsburg so typische Kioskkultur nun bedroht sein soll. Kopfschüttelnd sagt er: "Aber ein Kiosk ist doch nur ein Kiosk, wenn er auf hat, wenn sonst alles zu ist." Kämpferisch kündigt er an: "Wenn die das wirklich ernst meinen, dann gehen wir mit Hunderten von Wilhelmsburgern auf die Straße."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebungen syrischer Geflüchteter
Autokorsos und Abschiebefantasien
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Schwarz-Grün als Option nach der Wahl
Söder, sei still!
NGO über den Machtwechsel in Syrien
„Wir wissen nicht, was nach dem Diktator kommt“
Sturz des Syrien-Regimes
Dank an Netanjahu?
Unterstützerin von Gisèle Pelicot
„Für mich sind diese Männer keine Menschen mehr“