LEXIKON DES MODERNEN UND UNMODERNEN FUSSBALLS : Platzverhältnisse, die
CHRISTOPH BIERMANN
Wolfsburg ist kein Ort, bei dessen Nennung man sofort an Rauschmittel denken würde (oder erst recht), doch passionierten Züchtern von Cannabispflanzen dürften in der Arena des örtlichen VfL die Tränen in den Augen stehen. Dazu müssten sie das Stadion allerdings im Laufe der Woche jenseits des Spielbetriebs besuchen. Der Fußballableger des benachbarten Autokonzerns betreibt dort zwar keine Haschischplantage, aber wäre bestens dafür ausgerüstet. Unablässig sorgt eine mobile Scheinwerferbatterie auf Rädern auch im dunkelsten Schlagschatten der Tribünendächer für eine taghelle Beleuchtung des Rasens. So wachsen die Grashalme unabhängig von Licht und Dunkel, Sommer und Winter stets kräftig vor sich hin, damit die Wolfsburger Profis stets einen gepflegten Naturteppich für ihre Kunst vorfinden.
Aber das ist nur eine Möglichkeit, was man mit einem Rasen heutzutage machen kann, um den zeitgenössischen Fußball von der Natur abzukoppeln. In Gelsenkirchen oder Arnheim fahren sie ihn in gigantischen Betonwannen an die frische Luft, andernorts wird er alle naselang ausgewechselt, und überall sind die guten alten Platzwarte, die mal Männer mit dicken Bäuchen auf gemütlich vor sich hin tuckernden Rasenmähern waren, durch Geheimwissenschaftler namens Greenkeeper ersetzt worden.
Das hat dazu geführt, dass kaum noch ein Profi nach dem Spiel schlammverschmiert vom Platz kommt, weil es nirgendwo etwas zum Suhlen gibt. Unvorstellbar auch, dass heute Abermillionen in der ganzen Welt vor dem Fernseher sitzen und Männern in grünen Jacken und gelben Kappen vom Grünflächenamt der Stadt Frankfurt die Daumen drücken, dass sie mit ihren Walzen den Platz noch einigermaßen trockenlegen, damit ein entscheidendes WM-Spiel stattfinden kann, wie es 1974 vor der Partie Deutschland gegen Polen der Fall war. Heute würde die Drainage eines Bundesligastadions vermutlich auch die nächste Oderflut trockenlegen und die Rasenheizung auch sibirischen Permafrost auftauen.
Schneemassen auf dem Platz wären so schockierend wie Schlammkuhlen im Fünfmeterraum oder Buckelpisten im Mittelfeld, und so schaut man etwas ratlos auf Fotos von Bundesligaspielen der Sechziger- und Siebzigerjahre, auf denen am Ende des Winters kaum noch ein Quadratmeter Grün zu sehen ist, sondern nur noch schmatzender Morast, das Traumland jedes glücklichen Hausschweins.
Die Mutter aller Platzverhältnisse stammt allerdings aus einer noch früheren Zeit, aus der Ära des WM-Finales von 1954, als dem Fritz sein Wetter die deutsche Mannschaft auf dem aber ganz gut zu bespielenden Rasen des Berner Wankdorf-Stadions bevorzugte. Im Dezember des gleichen Jahres trat die Mannschaft von Honved Budapest mit sechs Spielern des ungarischen Nationalteams, das im Jahr zuvor den Engländern eine traumatische 3:6-Niederlage im Wembleystadion zugefügt hatte, zu einem Freundschaftsspiel beim englischen Meister Wolverhampton Wanderers an. Deren Manager Stan Cullis bot damals noch einen zwölften Spieler auf, den matschigen Rasen des Molineux-Stadions, der sogar noch zusätzlich gewässert wurde und seinen Teil zum 3:2-Sieg der Engländer beitrug. Cullis erklärte sein Team danach einfach mal zum Weltmeister, aber klar wurde bei diesem Spiel eigentlich etwas anderes.
Die Platzverhältnisse sind eine Waffe der fußballerisch Unterprivilegierten, denn sie schaffen dort Platz für den Zufall, wo sonst das Können obsiegt. Und wie könnten sie in Wolfsburg daran ein Interesse haben.