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Archiv-Artikel

LESERINNENBRIEFE

Die Welt der Normalverteilungskurve

■ betr.: „Frühreif – mit Spätfolgen“, taz vom 21. 12. 12

Ich habe mit Schrecken ihren Artikel über die Zusammenhänge von Übergewicht im Kindesalter und die hormonellen Folgen in der Pubertät gelesen. Mit Schrecken, da ich als ehemals dickes Kind und jetzt frühreife 19-Jährige nun darüber im Bilde bin, worunter ich anscheinend leiden sollte, wenn sich die Welt wirklich in die Normalverteilungskurven der zitierten Empirien einteilen ließe.

Beunruhigen Sie mich nicht so früh am Morgen mit biologistischem Determinismus! Mit einer mit 19 Jahren schon alten Frau können Sie so etwas nicht machen. Ich abonniere die taz, weil ich mir gerade hier einen kritischeren Umgang mit solchen trendigen Thesen erwarte.

Wo bleibt eine (genauere) Auseinandersetzung mit patriarchalen Prägungen von Körperidealen? Was ist mit dem Zusammenhang von Armut, Bildung, Übergewicht und den damit zusammenhängenden Möglichkeiten einer Selbst-Konstruktion? Hinweise auf Stop-Fat-Shaming-Ansätze?

Liebe taz, „dicke Kinder“ müssen nicht auf die Liste der Weltuntergangsgründe. ANTONIA KREISSL, Berlin

„Bin ich ein Negerkind?“

■ betr.: „Baby mit dunkler Hautfarbe“, taz vom 20. 12. 12

Unsere Tochter hat dunkle Hautfarbe. Abgesehen davon, dass sie in ihrem bisherigen Leben viele rassistische Erfahrungen machen musste (wie dass an einer Baustelle in der Stadt die Arbeiter das Kinderliedchen „Zehn kleine Negerlein“ sangen, als sie dort vorüberging, oder dass man ihr den Zugang zur Disco verweigerte), kam sie mit vier Jahren aus dem Kindergarten und fragte uns: „Papa (Mama), bin ich ein Negerkind?“ Was hätten Sie geantwortet? Wir sagen Ihnen: Die Familienministerin, die ja sonst ziemlich schräge Ideen hat, hat hier vollkommen recht. Das Wort Neger beinhaltet eine Abwertung dunkelhäutiger Menschen. Und da die Welt sich weiterdreht und man nicht immer noch in den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts verharren muss, sollte man dieses Wort nicht mehr verwenden. Wenn man es entsprechend anpasst, so ist das keineswegs Zensur. Es gibt auch genügend Literatur über das Thema, meist von Betroffenen, die zu lesen es sich lohnt. GABY und EBERHARD WAGNER, Marpingen

Nöte, Sorgen und Mängel der Männer

■ betr.: „Ich will das so“, taz vom 15./16. 12. 12

Das Thema Prostitution ist in der Gesellschaft so stark tabuisiert, dass man als Mann große Probleme hat, sich darüber zu äußern. Laut äußern sich meist nur Moralisten und Heuchler. Ein Verhältnis zu Prostituierten gilt als anstößig, pervers, ausbeuterisch, einseitig, frauenfeindlich. Ebendas ist es oft jedoch nicht. Auch die Autorin berichtet von normalen Umgangsformen der Kunden. Es ist ein gekauftes Bezahlverhältnis: Er bezahlt für ihre Dienstleistung. Bei einem normalen Geschäft sind beide Geschäftspartner zufrieden. Jetzt ist es so: Es gibt einen großen Wirtschaftszweig, in dem Tausende arbeiten und den Zigtausende nutzen, der komplett tabuisiert ist.

Die Dienstleister/innen ebenso wie die Kunden bestreiten, dabei zu sein. Wird jemand ertappt, flüchtet sie/er sich in Ausreden. Moralisch wäscht sie sich so rein und nährt die Geschichten von Ausbeutung etc. Natürlich gibt es Ausbeutung speziell ausländischer Menschen wie auch in anderen Branchen. Aber um das zu verbessern, helfen keine Tabus und keine Verbote.

Auch die andere Seite der Medaille verdiente mehr Aufmerksamkeit: die der Kunden, der Männer! Wer beschäftigt sich mit den Nöten, Sorgen, Mängeln der Männer, die Linderung, Heilung und Weiterentwicklung bei Marleen und Co suchen und finden? BERND SCHMIDT, Hamburg

Prostitution ist kein Beruf

■ betr.: „Ich will das so“, taz vom 15./16. 12. 12

Diese grandiose Verharmlosung eines gesellschaftlich relevanten Themas ist alarmierend. Prostitution ist kein Beruf, sondern Grundvoraussetzung für das Patriarchat. Sexualität ist ein Macht- und Kontrollinstrument, das der Herrschaftssicherung dient. Ein klein wenig Recherche würde der im Artikel Protokollierten nicht zum Nachteil gereichen. Zum Beispiel: Seit wann gibt es Prostitution? Aufgrund welcher Ereignisse kam es dazu, und wer profitiert in erster Linie davon? Sachdienliche Hinweise finden sich in der Literatur.

Was die Protokollierte im Artikel als „freiwillig“, „Ich will das so“ äußert, kann man als „vorauseilenden Gehorsam“ bezeichnen. Die Idee von der sexuellen Selbstbestimmtheit als Prostituierte ist ein Trugschluss – aber vielleicht ist das „Abenteuer“ Prostitution ja ihr Weg, das herauszufinden. GISELA GAST, Bremen