piwik no script img

Archiv-Artikel

LESERINNENBRIEFE

Entfremdete Arbeit

■ betr.: „Römische Dekadenz“, taz vom 16. 2. 10

Einige Aspekte fallen bei der öffentlichen Diskussion des Themas Hartz IV meist unter den Tisch. Zum Beispiel wird selten erwähnt, dass für Bezieher von Harz IV im Gegensatz zu ihren Kritikern oft nur schlecht bezahlte, dreckige, langweilige, wenig anerkannte und körperlich belastende Arbeiten zur Verfügung stehen, wenn das überhaupt der Fall ist.

Doch selbst für die, die vielleicht auf Grund ihrer Sozialisation und Ausbildung auch einen gut bezahlten, körperlich nicht allzu belastenden, interessanten und angesehenen Job finden könnten, bleibt die Tatsache der „entfremdeten Arbeit“ mit all ihren Demütigungen und – zum Teil krank machenden – Belastungen. Trifft die Schuld dabei nicht die, die sich weigern, Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu schaffen oder zumindest anzuvisieren, bei denen die freie Berufswahl nicht nur auf dem Papier steht und in der die Arbeit nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ gerecht verteilt ist und deshalb auch gleich anerkannt und bezahlt wird? Wenn es jedoch in einer sogenannten Demokratie, der das Grundgesetz sogar das Attribut „sozial“ verordnet hat, unmöglich ist, eine humane und gerechte Arbeitswelt zu schaffen, ist es dann nicht auch legitim, sich einer unzumutbaren Arbeit zu entziehen und sich von einer solchen Gesellschaft alimentieren zu lassen?

LUDWIG SCHÖNENBACH, Bremen

Kollateralschaden Arbeitslosigkeit

■ betr.: „Alle gegen Westerwelle“, taz vom 16. 2. 10

Man muss doch nur unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft analysieren, um herauszufinden, wer diejenigen sind, die in der sozialen Hängematte rumlungern.

1. Wer sind denn die sogenannten Leistungsträger? Doch wohl diejenigen, die von Lohnabhängigen ihre Profite erwirtschaften lassen, und das zu immer niedrigeren Löhnen und in immer prekäreren Arbeitsverhältnissen. 2. Wer ist denn gegen gesetzliche Mindestlöhne in den niedrigen Lohngruppen, so dass sich Arbeit kaum noch lohnt oder nicht mehr zum Leben reicht, andererseits aber für Mindesteinkommen per Gebührenordnung für Rechtsanwälte, Steuerberater, Ärzte und andere? 3. Wer nimmt denn ganz bewusst Millionen von Arbeitslosen als Kollateralschaden im Prozess der Gewinnmaximierung in Kauf und macht den gesellschaftlichen Absturz zur Privatsache, anstatt zu begreifen, dass es in der Tat ein Anliegen der Gemeinschaft sein muss, Arbeitslosigkeit zu verhindern beziehungsweise trotz Arbeitslosigkeit eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen?

Ausgerechnet Westerwelle erscheint hier als Klugscheißer, obwohl er selber jahrelang mit Staatsknete seine Interessen und die seinesgleichen vertreten durfte. FRANK DÖRNER, Essen

Westerwelle hat recht

■ betr: „Westerwelles Wortwahl in der Kritik“, taz vom 16. 2. 10

Nach meinem Gerechtigkeitsempfinden hat Westerwelle zu 100 Prozent recht. Wer Ja sagt zum kapitalistischen System, der sagt automatisch auch Ja zu einem Leistungsdenken. Es läuft hingegen einiges falsch, wenn jemand mit einer vorhandenen Arbeitsstelle weniger verdient, als wenn er einfach nicht arbeiten würde. Dies ist kein Votum gegen einen Sozial- respektive Solidaritätsabbau – im Gegenteil. Es ist ein Votum für mehr Gerechtigkeit und Solidarität. Finanzielle Abfederung und die sozialen Netze sollen jenen zugute kommen, die trotz großer Bemühungen tatsächlich keine Stelle mehr finden oder nicht mehr arbeitsfähig sind. Für alle anderen müssen die Anreize so angepasst werden, dass Arbeit sich wieder lohnt und die Schmarotzerei auf Kosten der Allgemeinheit nicht weiter belohnt wird.

PASCAL MERZ, Sursee, Schweiz

Zack, schon lohnt sich Arbeit

■ betr.: „Alle gegen Westerwelle“, taz vom 16. 2. 10

Es stimmt doch: Es ist ein Unding, dass man immer öfter genauso viel oder wenig Geld hat, ob man arbeitet oder nicht – Arbeit muss sich wieder lohnen! Also für jede Arbeit einen Mindestlohn von 10 Euro die Stunde, und ein bedingungsloses Grundeinkommen von, sagen wir 1.200 Euro im Monat für die, die nicht gebraucht werden, solange die Arbeitszeit nicht entscheidend verkürzt wird.

Der „Gesamtmetallpräsident“ hat gerade ausgeplaudert, dass die Unternehmen seines Verbandes „die Produktion auch mit 20 bis 25 Prozent weniger Mitarbeitern schaffen“ könnten – was liegt da näher, als die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich um 20 bis 25 Prozent zu senken? Sowohl Produktion und Profite als auch „Lohnkosten“ blieben dieselben, und „700.000 gefährdete Arbeitsplätze“ blieben erhalten. Da die Erwirtschaftung von „Lohn- und Lohnnebenkosten“ der ursprüngliche Zweck von Arbeit und Produktion ist, werden in einem zweiten Schritt die wirklich lästigen Auswüchse, Profite, „Boni“, genutzt, um die Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich um 50 Prozent zu senken und so noch ein paar Millionen „Bürgerinnen und Bürger in Lohn &Arbeit“ zu bringen – und zack, schon lohnt sich Arbeit wieder: „Lohn“ kommt ja von „lohnen“. PETER STEBEL, Berlin

Elitärer Geldadel

■ betr.: „Der Depp der Nation“, taz vom 15. 2. 10

Was Westerwelle vor allem vernebelt, ist die eigentliche Umverteilung von den Leistungsträgern zu den Empfängern leistungsloser Einkommen: Jährlich werden rund 500 Milliarden Euro von Arbeitnehmern und Konsumenten an eine kleine Besitzstandselite umverteilt durch Einkünfte aus dem Besitz großer Vermögen in Form von Renditen und Zinsen. Wohlgemerkt sind hier nicht gemeint die mittelständischen Unternehmer, die das Gros der Arbeitsplätze schaffen und sichern, und nicht gemeint die Sparer, die für die Rente oder größere Anschaffungen Geld zurücklegen, und nicht gemeint die Besitzer von Eigenheimen und Mietshäusern und anderen überschaubaren Besitzständen. Nicht die Umverteilung von der Mitte nach unten ist also das Problem, sondern die Umverteilung von Mitte und unten nach ganz oben. Denn nur ein winziger Bruchteil dessen, was der Mittelstand erarbeitet, geht an die Hartz-IV-Empfänger. Der Löwenanteil fließt zu den Superreichen.

Es geht um die Besitzer großer Vermögen, deren Besitzstand von Jahr zu Jahr wächst durch die Umlage der Kapitalerträge in allen Preisen, Steuern und Gebühren. Diese Klientel, die sich der FDP-Führungsriege bedient und diese Partei weitgehend finanziert, hat Westerwelle nicht gemeint, und doch würden seine Aussagen auf den elitären Geldadel so präzise treffen, wie auf niemand sonst.

THOMAS SELTMANN, Berlin

Erste Regel: informiert sein

■ betr.: „Schluss mit der Interviewdiplomatie“, taz vom 17. 2. 10

„Wir bekommen immer wieder Leute in Talkshows vorgeführt, die sagen, dass sie nicht arbeiten wollen. […] Und jetzt sollen die Hartz-IV-Sätze erhöht werden?“ So Jörg-Uwe Hahn. Man sollte den Kerl aus seinem Ministerbüro jagen, weil er die erste der fundamentalen Regeln eines Ministeramtes nicht beherrscht: informiert zu sein.

Seit 80 Jahren weiß man, welche Verheerungen dauerhafte Arbeitslosigkeit in den Gemütern und den Verhaltensmöglichkeiten der Betroffenen anrichtet. Seit mehr als 25 Jahren gibt es mehr als genug Einsichten aus Untersuchungen und Gesprächen vor Ort über west- und ostdeutsche Arbeitslosen- und Armutsfamilien, zu denen auch das Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit erheblich beigetragen hat. Aus hunderten von Daten weiß man, dass mehr als vier Fünftel aller Betroffenen um jeden Preis wieder in Arbeit kommen wollen. Für die Politiker war Hartz IV vor allem ein starkes Instrument zur Durchsetzung eines Billiglohnsektors in ganz Deutschland, indem intensiver Druck auf die Betroffenen ausgeübt wird, geringwertige Arbeiten anzunehmen. Für die Langzeitarbeitslosen war die Herabstufung auf Sozialhilfe, verbunden mit Arbeitszwang und 1-Euro-Jobs, eine Erniedrigung. Dennoch sind die meisten dankbar für die 1-Euro-Brosamen, die ihnen wenigstens bestätigen, dass sie in unserer Erwerbsgesellschaft gebraucht werden. Schon nach einem halben Jahr werden sie daraus wieder verjagt. Kein Wunder, dass sie nicht in Talkshows auftreten wollen. RAINER NEEF, Göttingen

Meinungsbildung à la FDP

■ betr.: „Schluss mit der Interviewdiplomatie“, taz vom 17. 2. 10

Endlich wissen wir, wie man sich in der FDP eine Meinung bildet: Vor dem Fernseher bei den Nachmittagstalkshows. Entlarvender als ein Zitat wie „Wir bekommen immer wieder Leute in Talkshows vorgeführt, die sagen, dass sie nicht arbeiten wollen“ geht es wohl kaum mehr. SILKE KARCHER, Berlin

Verdammt kurzer Weg

■ betr.: „Der Depp der Nation“, taz vom 15. 2. 10

Verdammt kurzer Weg von der Freiheitsstatue dieser Republik zum Depp der Nation. INGE NAUJOCKS, Krefeld

Wohin mit Ohnmacht und Wut?

■ betr.: „Der Personalversorger“, taz vom 18. 2. 10

Liebe taz – fast möchte man euch bitten, nicht mehr zu berichten über all die Stümper, Kretins und Unverschämten, die sich da nun Regierung nennen. Macht euch das eigentlich Spaß? Habt ihr überhaupt eine Vorstellung, was das bei euren Lesern anrichtet? Wohin allmorgendlich mit dieser Entrüstung, der Ohnmacht, der Wut? Vor allem – mal ehrlich –, wer seine sieben Sachen halbwegs beisammen hat, der wusste doch lange vor der Wahl, was von den Westerwelles, Niebels, Röslers und eben auch Merkels, Guttenbergs, Ramsauers usw. zu halten ist. Oder hat tatsächlich jemand geglaubt, Herr Westerwelle, geküsst von Macht und Merkel, würde sich über Nacht und qua Amt in einen wunderschönen Prinzen verwandeln? Das Schlimme ist, dass die nun frech mit unseren Steuergeldern ihr schäbiges Werk vollbringen, und wir dazu verdammt sind, davon Morgen für Morgen in der Zeitung zu lesen. A. RUDKI, Hamburg