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Archiv-Artikel

LESERINNENBRIEFE

„Digitale Boheme“ auf Hartz IV

■ betr.: „Wir nennen es Blase“ (über die „digitale Boheme“), taz vom 18. 3. 10

Armut trifft heutzutage nicht nur Schulabbrecher, sondern auch Hochschulabsolventen. Dass gut ausgebildete Menschen mit Ideen, diejenigen, die eigentlich „Vordenker“ hätten sein wollen, sich mit Hartz IV zufriedengeben müssen, kann man schlimm finden, oder man kann, wie ihr Autor Sebastian Ingenhoff, nüchtern festhalten, dass ein selbstbestimmtes Leben eben immer schon Verzicht bedeutete. Zumindest seit der Romantik ist das so: Ein echter Künstler haust lieber in einer zugigen Dachkammer, als seine Ideale preiszugeben. Engagierte junge Leute mögen so was. Und außerdem gibt es ja Internet.

Als Holm Friebe und Sascha Lobo 2006 von „digitaler Boheme“ sprachen und dazu aufriefen, die neuen sich bietenden Chancen doch endlich zu nutzen, war die große Dotcom-Blase allerdings längst geplatzt. Wenn Ingenhoff also moniert, dass das Internet in puncto Wirtschaftlichkeit gar nicht so toll sei, sondern im Gegenteil mit seiner „Gratismentalität“ vieles schlimmer gemacht habe, dann ist das so neu nicht. Und vielleicht ist es auch falsch, dem Internet die Schuld dafür zuzuschieben, dass Kreativsein kaum Geld einbringt. Wir machen uns da etwas vor – auch, wenn wir von bitterarmen Künstler-Bohemiens reden und Journalisten, Übersetzer, Kulturmanager, etc. meinen. Die französischen Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello haben bereits 1999 darauf hingewiesen, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem Kritik gut integrieren, oft sogar für die eigenen Zwecke fruchtbar machen kann.

Als die 68er mehr Selbstbestimmung und -verwirklichung einforderten, galten sie als „Spinner“ und „Unruhestifter“. Ihre Kinder dagegen verhalten sich heute konform, wenn sie sich freie, hochindividualisierte Arbeitsbiografien zusammenzubasteln. Friebe und Lobo haben diese Entwicklung noch gefeiert. Bei Ingenhoff wird eher der Katzenjammer deutlich, dass sich das so keiner vorgestellt hat, dass das auch bei Hartz IV enden kann. Aber was haben wir denn erwartet? Immerhin bedeutet die Rolle des Bohemien-Künstlers doch Verzicht und passt damit gut zu einem Wirtschaftssystem, in dem es einzig und allein darauf ankommt, mit minimalem Einsatz maximalen Gewinn zu erzielen.

DANIELA HOEHN, Berlin

Ohrenbetäubendes Schweigen

■ betr.: „Nur auf Zehenspitzen gehen“, taz vom 9. 3. 10

Iris Hefets These, wonach man sich aufgrund des Holocausts in Deutschland nicht traue, Israel zu offen zu kritisieren, entbehrt keinesfalls jeder Grundlage, wie Herr Hasgall behauptet. Gerade in der Politik herrscht hierzulande oft „ohrenbetäubendes“ Schweigen zur israelischen Politik. Ilan Pappe, den Hasgall erwähnt, ist ein ernstzunehmender Historiker, der seine Fakten unter anderem aus den Unterlagen der israelischen Armee bezieht. „Solchen Leuten“, wie sie Hasgall nennt, kein Podium zu geben, weil das nur Antisemiten in die Hände spielen würde, ist nicht richtig, denn es gibt auch viele Menschen, die sich ernsthaft mit dem Nahostkonflikt auseinandersetzen, die keine Antisemiten sind und die nicht jedes Mal, wenn „solche Leute“ einen Vortrag halten, nach London fliegen können. MANUELA KUNKEL, Stuttgart

Generalisierende Polemik

■ betr.: Nur auf Zehenspitzen gehen“, taz vom 9. 3. 10

Mich wundert an der Polemik von Iris Hefets, dass sie so generalisierend ist. Klar, wenn man Auschwitz für entlegene Zwecke instrumentalisiert und das Gedenken an Auschwitz sich verselbstständigt, ist das bedenklich.

Und ich habe laut gelacht, als im Stück „Die dritte Generation“ junge Israelis einen Lagerfeuersong mit dem Refrain „Don’t stop sending us to Auschwitz“ sangen. Aber solange es noch braune, antisemitische Dumpfbacken auf den Straßen und sogar in den Parlamenten gibt, solange die Schoah nicht fest im Gedächtnis aller verankert ist, solange dieser skandalöse Zustand besteht, kann doch nicht gegen das Gedenken generell polemisiert werden.

LINO ZIEGEL, Berlin

Wes Brot ich ess

■ betr.: „Datteln will das Kraftwerk retten“, taz vom 19. 3. 10

Im Zusammenhang mit den Protesten gegen Atomkraft sagt einerseits Frank Teichmüller von der IG Metall: „Wir brauchen die Energiewende.“ Nur erneuerbare Energien seien eine Wachstumsbranche und stünden für zukunftsfähige Arbeitsplätze. Andererseits hofft der DGB-Landeschef von NRW, Guntram Schneider, im Zusammenhang mit dem umstrittenen Kohlekraftwerk in Datteln, „dass nicht weitere Klagen den Bebauungsplan behindern, weil dieses Kraftwerk für NRW von großer industriepolitischer Bedeutung ist“.

Mich gruselts! Wird hier mal wieder das Lied danach gesungen, je nachdem wessen Brot gegessen wird?

Auch die Kinder und Enkel rückständiger Gewerkschaftsfunktionäre werden unter dem Klimawandel leiden, der von Kohlekraftwerken ganz bestimmt nicht verhindert wird.

INGRID GANGLOFF, Hamburg