piwik no script img

Archiv-Artikel

LESERINNENBRIEFE

Desaströse Regierungspolitik

■ betr.: „Italien wird berechenbar“, taz vom 15. 12. 10

Die Lage in Italien ist keineswegs so hoffnungslos, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag. Schließlich gibt es trotz des Fehlens einer echten politischen Opposition eine Gruppe, die die bisherige Regierung am Ende zu Fall bringen kann. Und zwar die wegen ihrer schlechten Perspektiven massiv unzufriedene junge Generation, die im letzten Jahr beispielsweise über Facebook einen Anti-Berlusconi-Day organisierte, bei dem sich Millionen von Italienern zur Demonstration gegen die desaströse Regierungspolitik wiederfanden. RASMUS PH. HELT, Hamburg

Die allgemeine Wehrpflicht

■ betr.: „Nie wieder dienen“, taz vom 11. 12. 10

Genau vor 32 Jahren wurde ich „gemustert“, mein Körper wurde beschaut, ob er zum Kriegführen tauglich ist. Weitere zwei Jahre später wurde ich wegen „Dienstflucht“ zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt, nachdem ich aus Gewissensgründen, bewusst und offen, den sogenannten Zivildienst abgebrochen hatte. Ursache und Legitimation dieser einschneidenden Eingriffe der Staatsmacht in mein Leben: die allgemeine Wehrpflicht.

30 Jahre nachdem wir uns der Wehrpflicht verweigerten und aktiv durch gewaltfreie Aktionen zivilen Ungehorsam leisteten, ist sie „ausgesetzt“, und ich vermute, dass es nicht mehr lange dauern wird und wir unser Ziel endgültig erreicht haben. Ich bin keinesfalls so vermessen, zu glauben, diese Entscheidung der aktuellen Bundesregierung sei der Erfolg unseres zivilen Ungehorsams. Die Motive von von Guttenberg & Co. sind andere als die unsrigen. Auch ist eine Berufsarmee bei Weitem nicht das, was ich will. Aber dass jetzt kein junger Mann mehr in Deutschland zum Kriegsdienst in militärischer oder zivilmilitärischer Form gezwungen werden kann, das ist ein Meilenstein auf dem Weg zu einem wirklich freiheitlichen Staatswesen, zu einem ästhetischen Staat, wie Friedrich Schiller sagen würde. Denn die Militarisierung der Zivilgesellschaft durch die Wehrpflicht, insbesondere die Prägung der jungen Männer in einem Alter, in dem sich die Persönlichkeitsbildung in einer wichtigen Entwicklungsphase befindet, durch ein gewaltorientiertes Menschen- und Männerbild, das auf einem bedingungslosen Gehorsamssystem basiert, halte ich für weitaus gravierender als die „Demokratisierung“ der Bundeswehr durch die Wehrpflichtigen, mit der die Wehrpflicht auch dem Militär kritisch gegenüberstehenden Menschen bis heute begründet wird. MARKUS STETTNER-RUFF, Schwäbisch Hall

Krieg wird zur Show

■ betr.: „Auch Angela Merkel spricht jetzt von Krieg“, taz vom 20. 12. 10

Mit einem erstaunlichen Selbstverständnis sprechen Politik und mediale Welt von Krieg in Afghanistan, von den wirtschaftlichen Interessen Deutschlands und allem, was zu Kriegen, zum „Feld der Ehre“ noch immer dazugehörte. Was vor wenigen Monaten noch hysterisch bestritten wurde, Kritik, die verschwiegen oder aufs Übelste angegriffen oder lächerlich gemacht wurde, das hat es alles offenbar nicht gegeben. Soldatische Tugenden sind hoch im Kurs, und für das Vaterland auch sterben zu dürfen scheint wieder ehrenvoll. Kriegsorden und Denkmäler – alles gibt es wieder. Natürlich, mit Kriegen vergangener Zeiten hat das alles wieder einmal nichts gemeinsam und schon gar nicht in seinen Ursachen. Krieg wird zur Show, nicht nur Kriegshelden dürfen bewundert werden. Auch Politiker samt Familie und Medienstars geben dem Krieg wieder einmal das Heroische, das es immer brauchte. Und nicht zuletzt endlose Lügen stehen nicht nur am Beginn von Kriegen. Wer wirklich glaubt, dass der Krieg in Afghanistan fast beendet ist, der wird sich gewiss noch wundern dürfen. Krieg zur Durchsetzung politischer und ökonomischer Interessen ist wieder völlig legitim und wird längst bedenkenlos an UNO oder Stimmen der Völker vorbei praktiziert.

ROLAND WINKLER, Remseck

„Ja, wir sind wütend“

■ betr.: „Angst vor den Wählern“, taz vom 18. 12. 10

Stefan Reinecke hat recht: Eine klare, offensive Begründung ist gefragt – aber die wird es nicht geben. Alles, was es gibt, sind bloße Behauptungen, gestützt von visionären Aussichten, die man glauben kann oder auch nicht. Es ist dieser intellektuell drittklassigen Rhetorik zweitklassiger Protagonisten geschuldet, dass es die Bezeichnung „Wutbürger“ zum Wort des Jahres geschafft hat. Ja, wir sind wütend über die Zumutungen, mit denen Bankenchefs, Minister, Finanzfachleute u. a. als wichtig dargestellte Charaktermasken ihre Einfälle mittels einer drangsalierenden (Selbst-)Behauptungssemantik wie „alternativlos“, „notwendig“, „unumkehrbar“ etc. massenmedial verbreiten. Aufgemerkt: Hier werden nicht im wissenschaftlichen Denken gestählte Intellektuelle wegen fehlender sachlogischer Begründungszusammenhänge oder widersprüchlicher Thematisierungen enttäuscht. Nein, hier rebelliert ein mäßig aufgeklärter bürgerlicher Alltagsverstand, der noch hinnimmt, dass er dem Christkind die Auslagen erstatten muss, aber nicht mehr einsehen kann, dass er bei dessen Erscheinen eine Vorauszahlung für die Ankunft des Osterhasen leisten soll, weil dieser sonst dem Christkind im nächsten Jahr das Budget für die Geschenke streichen will.

Möglich sind gelingende Visionen, die aber nur entstehen, wenn die Märchenerzähler davon absehen, ihr Publikum für wesentlich dümmer zu halten als sich selbst. Europa sucht nach besseren Märchenerzählern. KLAUS BECKER, Bergisch Gladbach