LESERBRIEF: Debatte: Utopia Rot-Grün
■ betr.: "Rot-Grün ist zur Zeit kein geeignetes Modell für Berlin" von Hans Kremendahl, taz vom 3.1.92
betr.: »Rot-Grün ist zur Zeit kein geeignetes Modell für Berlin« von Hans Kremendahl, taz vom 3. 1. 92
Sehr geehrter Herr Dr. Kremendahl,
in der taz vom 3. 1. 92 eröffneten Sie mit Frau Künast die Debatte, ob es auf absehbare Zeit Chancen (und Bedarf) für eine rot-grüne Zusammenarbeit gibt. Die Frage eines Regierungsbündnisses scheint sich in Berlin zunächst tatsächlich nicht zu stellen. Auch Renate Künast und Ralf Fücks (taz vom 4. 1. 92) wiesen hier keine Ansätze. Dennoch gibt es dringenden Anlaß, die Debatte weiterzuführen.
Ihre Ausgangsthese lautet, Ökologie und Basisdemokratie seien die (einzigen?) Politikansätze gewesen, die von der Seite der Grünen eingebracht wurden; die Basisdemokratie sei gescheitert, die Ökologie von den anderen Parteien übernommen und somit kein hervorstechendes Markenzeichen der Grünen mehr.
Mag sein, daß das konkrete Modell der »Basisdemokratie« gescheitert ist. Aber zum einen gingen die einzelnen Krisen direkt auf Sachfragen zurück, für die häufig die Politiker beider Partner eine überzeugende, differenzierte und angemessene Lösung nicht anzubieten wußten oder nicht zu vertreten wagten. Ich einnere nur an die nach der Veränderung der politischen Verhältnisse kaum mehr nachvollziehbare Art der »Diskussion« innerhalb der Regierung über die Bewag-Trasse. Zum anderen: Sie wissen zweifellos, daß dem Berufspolitiker viele für eine zukunftsweisende Politik wesentliche Fragen verborgen bleiben, etwa deshalb, weil er mit ihren Auswirkungen nicht mehr selbst konfrontiert ist, oder weil die Tagespolitik ihm zur übergreifenden Betrachtung wenig Gelegenheit läßt. Über weitere Fragen scheut er eine öffentliche Auseinandersetzung, nicht zuletzt, weil Aspekte des kollektiven oder individuellen Machterhalts entgegenstehen. Sollte also die Antwort basisdemokratischer Elemente gescheitert sein, so bliebe das mit ihnen verfolgte Anliegen doch offen; auf die Innovationsvorschläge der großen Volksparteien warte ich noch immer höchst gespannt.
Bestürzt bin ich über die These, für Fragen der Ökologie und Demokratie sei derzeit kein Raum; Voraussetzung sei eine prosperierende Wirtschaft, eine hinreichende soziale Sicherung.
Ist damit gemeint, die Menschen hätten nun eben anderes im Kopf? Dann werden wir wohl erleben, daß alle Weichen in die falsche Richtung gestellt sind, bis unsere Köpfe wieder frei sind, nach draußen zu schauen. Was tun Sie, was tun Ihre Freunde dafür, daß der Informationsstand wächst, das Differenzierungsvermögen rasch zunimmt? Müßte man hierfür nicht jede erdenkliche Chance offensiv — gemeinsam oder isoliert — nutzen?
Oder meinen Sie wirklich, Demokratie und Ökologie seien Luxuswünsche, die (erst oder nur?) im Wohlstand erfüllt werden können? Das mag für Gesellschaften gelten, in denen große Teile der Bevölkerung um das nackte Leben kämpfen (hiervon gibt es ja einige); aber die ärmsten Regionen unseres Staates sind demgegenüber so unermeßlich reich, daß sich ein Vergleich verbietet.
Im übrigen geht die Forderung nach größtmöglicher Beteiligung der Bürger an den politischen Entscheidungen vom Postulat der Selbstbestimmung des Menschen aus. Ein Luxus?
Die Macht, für andere verbindlich zu entscheiden, die Kompetenzabgrenzungen, die Verwaltungsstrukturen, gründen auf dem Anspruch, daß die Entscheidungen »richtig«, das heißt angemessen, differenzierend, zukunftsweisend getroffen werden. Dies zu gewährleisten, indem möglichst viele Interessen tatsächlich zur Artikulation gebracht werden, ist doch auch Ihrer Ansicht nach der Sinn von demokratischer Beteiligung. Demokratische Beteiligung um »des Wachstums« und der »Arbeitsplätze« willen aufs Spiel zu setzen, ist daher nicht nur ein Rückfall in Zustände der Entmündigung, sondern auch mit dem Risiko falscher Entscheidungen von großer Tragweite verbunden.
Es scheint mir auch ausgeschlossen, daß Sie eine Gegenüberstellung von »Ökonomie« und »Ökologie« wissenschaftlich noch vertreten wollen — und warum sollten wir sie dann politisch akzeptieren?
Die Kosten unserer beschränkten »ökonomischen« Sicht haben uns doch längst erreicht; jeder Umweltschaden, den wir durch weitere kostensparende Nachlässigkeit zulassen, wird uns — falls eine Beseitigung überhaupt möglich sein wird — ein Vielfaches an Folgekosten bescheren. Die handfesten und kostspieligen Umweltschäden in der ehemaligen DDR (zum Teil gerade einer bewußten Vernachlässigung technologischer Innovation zu verdanken) sind nur Vorboten dessen, was im Westen auf uns wartet.
Auch und gerade wenn Sie meinen, zur Zeit seien Demokratie und Ökologie kein Thema, müssen diese Fragen offensiv in die Öffentlichkeit getragen werden. Sonst wird es auch nach Jahren des Abwartens auf bessere Zeiten wieder heißen, die notwendigen Maßnahmen ließen sich politisch nicht vertreten.
Wir wissen, daß die Fragen, welches Wachstum wir wollen, welche Arbeitsplätze geschaffen oder erhalten werden sollen, seit Jahren auf unserer Tagesordnung stehen. Und wenn sie eine echte Entscheidungschance hätten, wäre dies auch den neuen Bundesbürgern nicht gleichgültig. Die Politik hofft, sich durch die Sonderprobleme der Vereinigung noch einmal vor der Antwort drücken zu können. Hierbei sollten wir sie nicht unterstützen. Dr. Rainer Tietzsch, Berlin 61
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