Kurzgeschichte aus „Hafenlichter. Stories“: Fernsehen
Peter ist ein wortkarger knurriger Mann, er hat es an der Leber. Obwohl ihm die Ärzte nur wenige Wochen gaben, lebt er immer noch. Und eines Tages bricht er sein Schweigen.
HAMBURG taz | Peter lebt heute immer noch, auch wenn die Ärzte ihm damals nur noch ein paar Wochen gaben. Er ist Wassermann wie ich, und er hat eine Vorliebe für Hans Albers. Hin und wieder besuche ich ihn; ich mache mir dann einen Kaffee, und er trinkt seinen Weinbrand. Er beschwert sich über die Pfleger, und jedes Mal fragt er, ob ich meinen neuen Job nicht an den Nagel hängen will.
„Diese Pieptüten bringen mich noch unter die Erde“, sagt er, schwenkt sein Glas, lächelt. „Ich brauch hier jemanden, der was vom Leben versteht.“
Ich hatte nie vorgehabt, bei einem ambulanten Pflegedienst zu arbeiten, aber die Zeiten waren nicht besonders gut. Ich schickte Bewerbungen los, und ein paar Wochen später kamen sie zurück; schließlich bewarb ich mich auf alles Mögliche.
Unser Einzugsgebiet beschränkte sich auf St. Pauli, und da ich einer der wenigen männlichen Pfleger war, bekam ich die Spezialaufträge: Alkoholiker oder Junkies, die nicht selten jünger waren als ich. Es gab einen ehemaligen Obdachlosen, der in einer Kellerwohnung lebte, beide Beine waren amputiert, und er rauchte, als würde ihm die Zeit davonlaufen. Und dann war da ein Junkie, der seine Nächte in den einschlägigen Kneipen verbrachte und die Tage nutzte, um sein Mobiliar zu zertrümmern.
Ich hatte täglich zwischen zwölf und fünfzehn Einsätze – Einkäufe erledigen, Medikamente verabreichen, Verbände wechseln. Für einige Wohnungen hatte ich Schlüssel, bei anderen musste ich läuten. Mehrere Male musste ich die Feuerwehr rufen und Türen aufbrechen lassen; zweimal kam ich zu spät. Ich habe mich oft gefragt, wie diese Beerdigungen abgelaufen waren, wie die Gräber ausgesehen haben und ob es dort einen Pfarrer gegeben hatte. Ich bin nicht gläubig, aber trotzdem hätte es mich beruhigt.
Für Peters Wohnung hatte ich einen Schlüssel, und als ich sie zum ersten Mal betrat, warf er mit einem Bierglas nach mir.
„Schon mal was von ’ner Klingel gehört, du Pappnase?“, sagte er und nahm einen Schluck aus der Bierflasche.
Die Wohnung war klein und vollgestellt, die Tapeten waren vergilbt. Er saß vornübergebeugt auf einer Couch, der Fernseher lief, aber der Ton war abgestellt.
„Was ist los, bist du versteinert? Ich brauch ein neues Glas“, sagte er und deutete auf die Schrankwand. „Außerdem bist du viel zu spät.“
Der Einsatz bei Peter bestand darin, ihm seine Medikamente zu verabreichen. Sie waren in einer silbernen Metallkassette eingeschlossen – eine Maßnahme, die die Patienten daran hindern sollte, alle Tabletten auf einmal zu nehmen. Ich war täglich bei ihm, meistens nicht länger als fünf Minuten, und es lief immer ähnlich ab.
Peter hatte nie Besuch, und in seiner Akte waren keine Angehörigen vermerkt, auch in der Station war nicht viel über ihn bekannt. Um ehrlich zu sein, es hätte mich nicht interessiert. Der Job war von Anfang an eine Übergangslösung gewesen; ich war immer noch auf der Suche. Das änderte sich auch nicht, als er ins Krankenhaus kam. So was gehörte nun mal dazu, und die Tour änderte sich ohnehin täglich.
Manchmal frage ich mich, was passiert wäre, hätte ich mich für einen anderen Job entschieden. Im Grunde ist mir bewusst, dass man völlig austauschbar ist, und trotzdem bin ich mir sicher, dass die Dinge anders verlaufen wären.
Als Peter aus dem Krankenhaus kam, war er wie ausgewechselt. Wenn ich die Wohnung betrat, sagte er kein Wort. Er hatte über zehn Kilo abgenommen, seine Haut war wächsern und sein Blick trüb. Jetzt kümmerte ich mich auch um die Einkäufe und das Geschirr. Ich kaufte Dosensuppen und andere Fertiggerichte, aber er verlor immer weiter an Körpergewicht. Das ging fast zwei Wochen so. Ich begann Kuchen zu besorgen, Joghurt und Schokolade, aber auch davon wollte er nichts wissen. Ich sagte ihm, dass er essen müsse, aber er sah mich nicht einmal an.
Außer mir besuchte ihn nur sein Hausarzt, ein untersetzter Mann mit Brille kurz vor dem Ruhestand. Ich kannte ihn von einem anderen Patienten.
„Die Leber“, sagte er, als ich ihm einmal im Hausflur begegnete. „Völlig hinüber, ist alles nur noch eine Frage der Zeit.“
Ich hatte damals noch keinen Toten gesehen und rechnete täglich damit. Aber das war es nicht, was mich beunruhigte. Wovor ich Angst hatte, war, dabei zu sein, wenn jemand starb. Und trotzdem blieb ich jeden Tag länger bei Peter, wärmte die Fertiggerichte auf, warf das Essen vom Vortag weg, spülte das Geschirr, saugte die Wohnung. Während ich herumwuselte, bewegte sich Peter nicht vom Fleck, er hatte aufgehört, sich zu rasieren und trug immer denselben blauen Trainingsanzug. Ich glaube, dass er auch die Nächte auf der Couch verbrachte. Immer wieder wollte ich ein Gespräch mit ihm anfangen. Ich versuchte es mit dem Wetter, ich versuchte es mit Fußball, aber es war aussichtslos.
Die Sachen für Peter besorgte ich in einem Walmart. Der Laden war riesig, und ich kam mir lächerlich vor, wenn ich durch die hell beleuchteten Gänge lief und Lebensmittel in den Einkaufswagen legte. Mir kam alles irgendwie lächerlich vor, meine ganze Arbeit.
Es gibt ein Bild aus dieser Zeit, das ich noch heute klar vor Augen habe. Peter wohnte in einem Altbau, und vor seinem Küchenfenster stand eine Buche. Es war Herbst, und die Blätter waren knallrot, es sah aus, als stünde der Baum in Flammen. Jemand hatte Meisenknödel an die Zweige gehängt, und ich stand oft dort am Fenster und beobachtete, wie die Vögel zwischen dem Laub hin und her sprangen und ihre kleinen Köpfe bewegten. Diese Tiere hatten etwas Tröstendes an sich – sie strahlten Leben aus zwischen all diesen Gestalten.
„Ich bin einfach abgehauen“, sagte er. Ich hörte sein Feuerzeug klicken, dann atmete er aus.
Ich stand im Flur, ich hatte meine Jacke schon angezogen und wollte gerade die Wohnung verlassen.
„Ich weiß nicht, warum… Ist ’ne Ewigkeit her. Bin einfach weg.“
Ich ging Richtung Wohnzimmer und blieb in der Tür stehen. Er blickte zum Fernseher.
„War alles gut. Haus, Job. Sonja war vier. Ein schönes Mädchen, ganz die Mutter.“ Er zog an seiner Zigarette, dann sah er zu mir, aber er wirkte abwesend.
„Ich hatte Angst, weiß nicht, wovor, irgendwie…“, er stockte. „Ich war seitdem nicht mehr dort, aber seit ein paar Tagen habe ich wieder den Geruch der Felder in der Nase.“
Ich trat in den Raum und setzte mich auf einen Sessel. Er hielt mir seine Zigarettenschachtel hin, ich nahm eine, und er gab mir Feuer.
„Zweiundzwanzig Jahre“, sagte er, „Scheiße.“
Ich blieb bis zum späten Abend. Er erzählte, und draußen wurde es langsam dunkel, ein paarmal klingelte das Telefon – aber wir ignorierten es. Zum ersten Mal, seit ich dort arbeitete, hatte ich das Gefühl, etwas tun zu können.
Als ich bei Peter ankam, stand er schon vor dem Haus. Er trug eine schwarze Lederjacke und eine Jeans, er war rasiert und hielt einen kleinen braunen Lederkoffer in der Hand. Er wirkte wie ein anderer Mensch. Ich kam direkt neben ihm zum Stehen und kurbelte das Fenster herunter.
„Sie haben einen Wagen bestellt?“, sagte ich, Peter lächelte.
Als wir den Elbtunnel hinter uns gelassen hatten, schaltete ich das Radio ein; es lief ein Song von Bruce Springsteen. Der Himmel war grau, und es nieselte, von den Autos, die über die Köhlbrandbrücke fuhren, konnte man nur die Lichter erkennen. Ich blickte zu Peter, der aus dem Fenster sah, seine Hände lagen auf seinem Schoß. Ich weiß nicht, warum, aber ich musste ihn mir in dem Moment als kleines Kind vorstellen.
„Ist ’ne Weile her, dass ich das alles gesehen hab“, sagte er, und dann sagte er eine ganze Zeit nichts mehr.
Mein alter, klappriger VW schnurrte, die feuchte Autobahn glänzte im Scheinwerferlicht. Ich wusste nicht, ob der Wagen die Strecke schaffen würde, aber es war mir egal.
Dies ist eine Geschichte aus Jens Eisels Buch „Hafenlichter. Stories“, erschienen im September 2014 beim Piper Verlag, 144 Seiten Jens Eisel liest am 16. Oktober im Hamburger Buchladen Cohen & Dobernigg, Sternstraße 4
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!