Kurzfilmfest in Oberhausen: Unter freiem Himmel
Viele Beiträge zu den Oberhausener Kurzfilmtagen fragten, wie unter Bedingungen der Videoüberwachung Öffentlichkeit zustande kommt.
VON DIETMAR KAMMERER
Die Fußgängerzone in Oberhausen hat für Einkaufswillige wenig zu bieten. Von den bekannten Ladenketten mit hohem Wiedererkennungswert, die Kaffee, Turnschuhe oder Fastfood in einheitlich gestalteten Umgebungen anbieten, findet man kaum eine Filiale in der Innenstadt. Stattdessen Leerstand, Ramschartikel und einige wenige sich zäh am Leben erhaltende Läden für den Spezialbedarf. Jedes Jahr wird Anfang Mai ein Straßenfest organisiert, dann laufen vor den Geschäftsräumen des Optikers Brillenmodels auf und ab, während ein paar Schritte weiter ein Kinderkarussell langsam seine Kreise zieht.
Wer das Shoppingerlebnis sucht, muss sich per Straßenbahn in die Shopping Mall an den Stadtrand begeben, der hier "Neue Mitte" heißt. Deren Planer haben unter einem gläsernen Kuppeldach die Simulation eines frei begehbaren Markplatzes errichtet, mitsamt Springbrunnen, mediterranen Dekorelementen und Videoüberwachung. Wie offener Raum in ein geschlossenes System verwandelt wird und welche Formen Versammlungen unter freiem Himmel annehmen können, davon handelten auch einige der Filme, die auf den 55. Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen zu sehen waren.
In einem Waldgebiet campieren einige tausend junge Männer und Frauen. Man treibt gemeinsam Sport und kümmert sich um die Organisation des Lagers. Sauberkeit und Ordnung haben oberste Priorität, schließlich probt hier die künftige Elite Russlands den Aufbau ihres Landes "zur global führenden Nation des 21. Jahrhunderts", wie die, die gefragt werden, so einstimmig wie freimütig antworten. "Nashi" von Daya Cahan zeigt die von Präsident Putin ins Leben gerufene Jugendbewegung, die sich selbst für die "größte politische Bewegung weltweit" hält, als Verbindung aus Freizeitlager und ideologischer Schulung, aus Open-Air-Atmosphäre und militärischem Drill.
Kein Wald, sondern ein Stadtpark in Singapur ist Schauplatz politischer (Nicht-)Bewegung in "Speakers Cornered" von Martyn See, der im Sonderprogramm "Unreal Asia" gezeigt wurde. Eine Gruppe von Bürgerrechtlern versucht anlässlich des Weltbank-Treffens 2006 eine Versammlung und einen Protestmarsch abzuhalten. Weil die Weltpresse anwesend ist, gibt die Polizei zwar formell die Erlaubnis für die Demonstration, hindert die Hand voll Protestwilligen in "Democracy Now!"-T-Shirts aber physisch daran, ihren Weg in die Innenstadt fortzusetzen. "Es ist für Ihre eigene Sicherheit", lautet die wiederholte Auskunft der Polizeibeamten, die eine menschliche Mauer bilden, an der kein Vorbeikommen ist. Drei Tage dauert die Konfrontation, während derer schon der Versuch, die Straße zu überqueren oder zur Toilette zu gehen, zum Gegenstand ausgiebiger Verhandlungen wird.
"Kamunting" von Amir Muhammad dokumentiert die Autofahrt des Regisseurs zu einem Gefängnis in Malaysia. Er besucht dort einen Freund, der auf Grundlage des Gesetzes zur Inneren Sicherheit festgenommen wurde. Während durch die Windschutzscheibe erst die Berge des Landes, dann die endlosen Reihen von Militärkasernen sichtbar werden, bleibt das Ziel der Reise selbst ohne Bild, denn auf dem Gelände des Gefängnisses herrscht Abbildungsverbot. Ironisch setzt Muhammad einige Sekunden Schwarzbild anstatt des Bildes, das heimlich gemacht wurde, aber nicht gezeigt werden darf: eine malaysische Fahne, darüber der offene Himmel.
Auch in "A Letter to Uncle Boonmee" von Apichatpong Weerasethakul sucht die Kamera beständig das Offene, den Blick in die Weite des Himmels. Der Film beginnt als Making-of eines Projekts, das nicht zustande kam. Im Off bespricht der Regisseur mit seinen Darstellern das Skript, einzelne Zeilen werden wiederholt. Währenddessen sucht die Kamera erst das Innere eines Hauses, dann dessen Umgebung ab, um sich schließlich im Dickicht des Dschungels zu verlieren. Soldaten oder vielleicht einfach nur Darsteller in Uniform geben sich dem Müßiggang hin, aber der friedvolle Schein trügt. Das Dorf im Norden Thailands wurde einst von der Armee besetzt, die die Bewohner terrorisierte und vertrieb. "A Letter to Uncle Boonmee" erhielt in Oberhausen den Großen Preis der Jury.
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