Kurt Scheels Lichtspiele: Wenn Engel sabbern
■ Über einen mutigen Tabubruch
Eines der tabuisiertesten Themen der Filmgeschichte ist das Sabbern; nicht Hunde- oder Babysabbern, sondern erwachsenes, ausgereiftes. Weinen, schwitzen, spucken und sogar pinkeln (naturalia non sunt turpia!) – Körperflüssigkeitsaustritt als solcher ist dem Filmfreund nicht fremd, und wahrscheinlich gibt es sogar allerlei dekonstruktive Studien darüber („Weeping the Movies. Male Chauvinist Strategies and the Invention of Repression“), aber wann haben Sie jemals einen Star im Film sabbern sehen? (Jetzt ertönt geheimnisvolle Musik, das Bild wird unscharf, wirft so merkwürdige Wellen: Rückblende, genau.)
Schwarzweiß, ein großer, sehr heruntergekommener Raum voller kollwitzartiger Gemälde; ein Mann in einem Sessel, einen Arm in der Schlinge – aber das ist doch James Mason! Gott, sieht der schlecht aus, bzw. gut: Er ist so jung (37) und großartig leidend, als liege er im Sterben, was ihm billigerweise eine geradezu jesusmäßige Aura verleiht. Ein Eindruck, der verstärkt wird dadurch, daß die Kamera ihn in Untersicht und leicht verkantet aufnimmt.
Und jetzt steht er auf (die Kamera schwenkt nach oben mit, also noch stärkere Untersicht), seine Augen leuchten, er erhebt priesterlich den (gesunden) Arm und beginnt verzückt zu deklamieren: „Und wenn ich mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönend Erz, eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte“ – Obacht, jetzt passiert's: ein langer, nicht enden wollender Sabberfaden löst sich und rollt über die volle Unterlippe des kußmundigen Mason – „und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis“ und weiter: „und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts.“ Und mit verwirrtem Blick setzt er sich: nach vierzehn Sekunden ununterbrochenen Sabberns!
Carol Reed wird das beim Ansehen der Muster von „Odd Man Out“ (1946), dieser schwerkatholischen IRA-Geschichte, gemerkt und sich überlegt haben, die Szene nachzudrehen. Aber Mason war so gut gewesen! Und eigentlich paßt das Sabbern ja auch gut zu seiner Entrücktheit und dem Pathos der biblischen Sprache. Im übrigen würde das Publikum im Kino gar nichts davon mitkriegen, geht ja alles viel zu schnell.
Stimmt! Man bemerkt das Sabbern nur, wenn man den Film zum wiederholten Male sieht und auf Video – seinen Augen nicht trauend, spult man noch mal zurück und hat den Beweis. (Das verstehe ich unter empirischer Filmforschung, Monsieur le Cinéaste!)
In Großaufnahme das Gesicht einer Frau, seitlich auf einem Tresen liegend, über ihr das eines Mannes, der sagt: „Ich hab' mir die Sache mit den anderen Burschen überlegt. Ich mag dich doch so, wie du bist, und darum kann's mir im Grunde gleichgültig sein, wie du so geworden bist.“ Die Frau hebt den Kopf – und jetzt, genau hinsehen!, fließt aus ihrem Mund eine veritable Sabberschliere –, seufzt und sagt: „Beau, so was Liebes, so was Zärtliches hat noch nie jemand zu mir gesagt.“ Parbleu! Anstatt ihm in die Fresse zu hauen, nimmt sie den dämlichen Antrag an und läßt sich von diesem rauhbautzigen Jungrancher als Ehefrau nach ... Montana abschleppen. Sie, eine Sängerin oder „Diseuse“, wie sie sich nennt, die ein Hollywood-Star werden wollte. Ich weiß nicht. Als Feminist ist man empört und fragt sich nur, ob der Film, recht eigentlich besehen, nicht auch ziemlich männerfeindlich ist. Unter geschlechtspolitischen Gesichtspunkten ist Joshua Logans „Bus Stop“ (1956) jedenfalls schwer erträglich heutzutage: Marilyn Monroe als „Chérie“, blond, doof, kann nicht singen, trägt grotesk-nuttige Kleider, und Ingrid Steegers Synchronstimme, kleinmädchenhaft piepsend, gibt dem allen den finalen Touch des Lächerlichen.
Aber das schadet nichts. Denn dieses weiße Gesicht mit dem goldenen Haar, den purpurnen Lippen und den blauen Augensternen ist so schön, so unberührt und überirdisch, daß wir es gebannt anstarren müssen und alles Drumherum verschwindet. Und unsere Ergriffenheit, unsere Ehrfurcht vor dieser engelhaften Erscheinung wird nur ein wenig auf die Erde zurückgeholt, wenn wir sie beim Sabbern, dieser kleinen, unverhofften Intimität, ertappen. Und wir erinnern uns an dieses schmerzhafte, wunderbare Gefühl, als wir den ersten, ach so zarten Rülpser unserer Geliebten hörten und wußten: Ist sie auch ein Engel, so doch von dieser Welt. Kurt Scheel
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