Kunst zum Ausschneiden: Tatsächlich eine Skulptur?
■ Ein Skulpturen-Rundgang durch die Weserburg in 13 Stationen (6)
Lawrence Weiner bezeichnet alle seine Arbeiten als Skulpturen, da sie einen Raum einnehmen, und sei es durch Malerei oder durch Schrift:
HAVING BEEN BUILT ON SAND
WITH ANOTHER BASE (BASIS) IN FACT
AUF SAND GEBAUT
TATSÄCHLICH AUF ANDEREM GRUND
ist eine Skulptur, und die Außenwand der Weserburg der Träger, auf dem sie präsentiert wird. Durch sie wird die Öffentlichkeit auf die Ausstellungssituation eingestimmt schon vor dem Eintreten ins Museum.
Lawrence Weiner möchte, daß seine Arbeit für jeden zugänglich ist. Das besondere Verhältnis zwischen seinem Kunstprodukt und der Gesellschaft besteht darin, daß sich die Öffentlichkeit das Kunstwerk in Form eines Textes lesend aneignen kann. Denn sobald man einen Text liest, tritt man bildhaft assoziativ in einen Dialog mit ihm ein.
Weiner möchte, daß seine Arbeit interpretiert wird, bezeichnet sie aber nicht als Literatur. „In der Literatur geht es wesentlich um eine subjektive Realität und in der Kunst um die objektive Realität... Kunst ist und muß eine empirische Realität sein, die sich befaßt mit den Beziehungen von Menschen zu Objekten und von Objekten zu Objekten in Beziehung zu Menschen.“
Die sachliche Typographie verzichtet weitgehend auf individuelle Gestaltung und Interpunktion. Die Großbuchstaben auf der Museumswand sind mit Schablonen in weißer Farbe gemalt. Durch die Ausführung in Englisch und Deutsch soll die Gleichwertigkeit der Sprachen betont werden. Die Anordnung der beiden Sprachversionen ist so gewählt, daß sie sich zu den Seiten hin verschiebt, fließend ist. Dadurch wird der Prozeß der Sprachfindung, Formulierung und Übersetzung symbolisiert.
Weiner definiert seine künstlerische Einstellung folgendermaßen:
1) Der KÜNSTLER KANN DAS WERK SELBER AUSFÜHREN
2) DAS WERK KANN VON EINER ANDEREN PERSON HERGESTELLT WERDEN
3) DAS WERK MUSS NICHT AUSGEFÜHRT WERDEN
JEDE MÖGLICHKEIT IST GLEICHWERTIG UND ENTSPRICHT DER ABSICHT DES KÜNSTLERS
DIE ENTSCHEIDUNG ÜBER DIE ART DER AUSFÜHRUNG LIEGT BEIM EMPFÄNGER IM MOMENT DER ÜBERNAHME
Das heißt also, daß die Plazierung des Textes in einem anderen Kontext eine neue dialektische Beziehung erfährt, in jedem Kontext aktiv wird, sich an ihn bindet, ohne durch ihn gebunden zu sein.
Der Skulpturbegriff hat eine vielschichtige Erweiterung erfahren. Zahlreiche Experimente und die zum Teil „pauveren“ Materialien haben die klassische Auffassung von Skulptur in Frage gestellt, der Reflexions- und Deutungsradius dehnt sich immer weiter aus. Neben einer Vielzahl von Richtungen stehen Minimal- und Concept Art, zu letzterer gehören Weiners Werke.
Mit der Einführung von sprachlichen Arbeiten zum Begriff der Skulptur erweitert Weiner diesen nochmals.
Ist es möglich, Werke zu schaffen, die keine Skulpturen sind? könnte man sich angesichts dieses erweiter
hierhin bitte
die giebelige
Häuserfront
am Wasser
bitte bis unter
den Balken kleben
ten Kunstbegriffs fragen. Handelt es sich überhaupt um Kunst oder um einen Angriff gegen die Institution Kunst? 1968, als die ersten Spracharbeiten Lawrence Weiners in Form des Buches „Statements“ erschienen, probten viele Künstler neue Formen der Negation des Visuellen. Während die Bilder verstummten, verlagerten etliche Künstler der Konzeptkunst ihre Produktion in sprachliche Strukturen. Das bedeutete auch Protest gegen den Objekt- und Warenstatus des Werks, gegen den Kunstmarkt.
Neben Galeriewänden sind für Weiner Tageszeitungen, Plakate, Aufkleber, Tücher und Streichholzschachteln Träger für seine Arbeiten. Er kreierte zum
Beispiel einen Anstecker mit dem Satz: LEARN TO READ ART — KUNST IST LESBAR. Die Fassade der WESERBURG bildet gleichsam den Sockel für Weiners Sprachskulptur im öffentlichen Raum. Dem Rezipienten eröffnet sich ein geistiger Raum und die Freiheit für vielfache Lesarten:
ART IS MADE FOR OTHER PEOPLE
ONE DOES HOPE TO COMMUNICATE
KUNST IST FÜR ANDERE MENSCHEN GEMACHT
MAN HOFFT MITEINANDER INS GESPRÄCH ZU KOMMEN
Christine Breyhan / Foto: Joachim Fliegner
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