: Kunst unter der Scharia
Zur Aufgabe der Gegenwartskunst: Die 7. Sharjah International Biennial „Belonging“ soll das drittgrößte Scheichtum der Vereinigten Arabischen Emirate als das kulturelle Zentrum der arabischen Welt auf die internationale Landkarte bringen
VON JÖRN SCHAFAFF
Weit und breit ist keine Kunst zu sehen. In der Halle des Sharjah Expo Centres erwartet die Besucher zunächst eine geräumige Landschaft meterhoher White Cubes. Jeder von ihnen hat die Ausmaße eines kleinen oder mittleren Kunstvereins. Hineingesetzt in die funktionale Messearchitektur, soll die Inszenierung der 15 Gebäude an einen Souk, einen arabischen Markt, erinnern. Der zentrale Platz wird von einem zylinderförmigen Bau geprägt, darum gruppiert, frei im Raum und entlang der Außenwände der Halle, stehen die übrigen Häuser. In den Wegen und engen Gassen zwischen ihnen kann man tatsächlich die Orientierung verlieren. Man muss sich auf die Suche nach den Eingängen machen, um zu entdecken, was in den Gebäuden verborgen ist.
Das Expo Centre untersteht der örtlichen Industrie- und Handelskammer. Die Entscheidung, gerade hier ein Kunstereignis anzusiedeln, verweist fast überdeutlich auf den erhofften Marketingeffekt, der in den letzten Jahren weltweit Kunstgroßereignisse aus dem Boden schießen lässt. Sharjah ist das drittgrößte der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE). Anders als Dubai oder Abu Dhabi ist es überregional kaum bekannt. Nun soll das kleine Scheichtum auf die internationale Landkarte, als „das kulturelle Zentrum der arabischen Welt“, wie der Pressetext sagt. Gegenwartskunst eignet sich hierfür offenbar besonders, denn mit ihr assoziiert man Modernität und Aufgeschlossenheit. Und so hat die siebte Ausgabe zum ersten Mal einen dezidiert internationalen Fokus.
Über 70 Kulturschaffende aus 36 Ländern hat das Kuratorenteam – der palästinensische, in Jerusalem lebende Kurator und Galerist Jack Persekian, der kanadische Künstler Ken Lum und der in Kalifornien geborene, im Iran, England und der Schweiz aufgewachsene Autor und Filmemacher Tirdad Zolghadr – unter dem Motto „Belonging“ zusammengeführt. Erörtert werden nicht nur soziopolitische und kulturelle Aspekte, sondern insbesondere auch die Orientierung der Kunst zwischen lokaler und globaler Praxis. Wer spricht von wo aus mit welchen Mitteln über was? Wer ist von wo aus in der Lage was auf welche Weise zu lesen? Diese Fragen und die Widersprüche, die ihre Beantwortung offenbaren, schweben als Metaerfahrung über der gesamten Ausstellung.
In Ramallah filmte der britische Künstler Phil Collins palästinensische Jugendliche bei einem Tanzmarathon. Präsentiert auf zwei im rechten Winkel angeordneten Wandprojektionen, zeigen jeweils vier von ihnen vor einer pinkfarbenen Wand ihr Können („They Shoot Horses“, 2004). Die Kleidung der Teens und die Musik entstammen der westlich-globalen Popkultur, die vorgetragenen Posen und Styles kennt man aus den einschlägigen Boy- und Girlgroupvideos. Es ist ein vereinheitlichter, medialer Zeichenraum, in dem sich die Tanzenden eingerichtet haben.
Immer wieder allerdings mischen sich Gesten und Bewegungen in die Darstellung, in denen augenscheinlich die lokale Sozialisation durchscheint. Collins eigentliches Anliegen war es, andere, eben normale Bilder einer medial so einseitig erschlossenen Region zu zeigen. Für jemanden, der in Palästina lebt, mag allein schon dieses Ansinnen befremdlich wirken. Emily Jacir ist eine der vielen KünstlerInnen in der Ausstellung, deren Biografie auf eine Stellung zwischen den Kulturen hindeutet. Auch in ihrer Arbeit geht es um Ramallah.
Dort und an ihrem anderen Wohnsitz New York filmte sie jeweils ein Café, ein Reisebüro und einen Friseur. In langen Einstellungen schaut man dem Treiben zu – und kann kaum ausmachen, welches Video wo entstand („Ramallah/New York“, 2004/05).
Unwillkürlich beginnen wir Vergleiche anzustellen, nach Indizien zu suchen. Wurde da nicht Amerikanisch gesprochen? Könnte dieses Dekor wirklich in New York auftauchen? Jacirs simple Anordnung lenkt den Blick darauf, wie Migranten sich in der neuen Heimat einrichten, indem sie die sichtbaren Zeichen der alten einfach mitnehmen. Wo befindet man sich eigentlich, wenn der Frisiersalon dem in der Herkunftsstadt gleicht, wenn die Lokale so aussehen wie in der vertrauten Kultur? Die Auseinandersetzung überzeugt, auch weil sie auf der formalen Ebene eine Entsprechung findet. So wie die Aufrechterhaltung einer Exilkultur nur durch die Ausblendung der umgebenden Fremde funktioniert, bleibt auch dem Betrachter der Raum und das Leben außerhalb des starren Videobildes konsequent verborgen.
Jacirs Arbeit ist im Sharjah Art Museum untergebracht, dem zweiten Ausstellungsort der Biennale. Wie in den Sälen des Expo Centres werden auch hier die Arbeiten einzeln, jede für sich präsentiert. Entlang eines sich über fünf Ebenen schlängelnden Korridorbandes reiht sich Koje um Koje, teils offen zum Gang, teils geschlossen, wenn es sich um eine der zahlreichen Videoinstallationen handelt. Die lineare Anordnung ließe eine narrative Struktur vermuten, wofür sich aber kaum Belege finden lassen. So widmet man sich auch hier dem Abarbeiten einer Ansammlung aufeinander folgender, räumlich isolierter Aussagen.
Ursula Biemann präsentiert Fotos und Videos über die Folgen des Ölbooms am Schwarzen Meer („Black Sea Files“, 2005). Moataz Nasr lässt eine zentrale Szene des 1969 gedrehten ägyptischen Spielfilms „El Ard“ in einem Kaffeehaus im Kairo der Gegenwart nachspielen. Im Original hält ein Mann eine flammende Ansprache an die passiven Dorfbewohner. Dies ist eine bis heute im arabischen Raum bekannte Szene, die damals im Geiste des politischen Aufbruchs entstand. Wenn heute eine Frau, die Geschichtenerzählerin El Ansary, dieselbe Rede in einem realen Café an die etwas verwirrt herumsitzenden Männer halten muss, liest sich das Reenactment als Kommentar auf 30 Jahre Stillstand. Erik van Lieshouts Installation wütender Zeichnungen und Collagen stellt eine wirkungsvolle Brücke zwischen dem nahöstlichen und dem mitteleuropäischen Lebensraum her. Mit Schleiern übermalten und anderweitig überklebten Darstellungen nackter Frauen und Männer vermischen sich mit Zeitungsberichten über den ermordeten Filmemacher Theo van Gogh und den rassistischen Reaktionen in den Niederlanden. Diese krude Konfrontation religiöser, sexueller und politischer Diskurse und ihres Gewaltpotenzials trägt die Diskussion des Belonging in den westlichen Raum hinein.
Fouad El Kourys großformatige Fotografien halten die rasanten baulichen Entwicklungen Dubais und Sharjahs fest, die in kürzester Zeit das Bild der Stadt verändern („Civilisation Series“; „Fake = Real“, 2005). Auf Wüstensand gebaut, verdichten sich gewaltige Büro- und Wohntürme zu Szenerien von Urbanität, deren Gespenstigkeit in der Komposition und der Farbigkeit der Bilder ihre Entsprechung finden. Auffällig ist die Abwesenheit von Menschen in fast allen Aufnahmen. Nur der Schatten des Künstlers erscheint immer wieder schemenhaft am unteren Bildrand. Für wen werden diese gewaltigen Nutzflächen errichtet? Wer sind die Menschen, die hier ihr Leben verbringen? Fragen wie diese bringen dem Besucher ins Bewusstsein, dass in der Sharjah Biennale die Beschäftigung mit der Wirklichkeit des Gastgeberlandes fast vollständig ausbleibt. Wie kommt es, dass kaum ein Künstler das Risiko eingeht, die kulturellen Besonderheiten oder auch die sozialen Missstände zu thematisieren?
Die VAE sind ein Feudalstaat, dessen Wohlstand auf Öl basiert und dessen einheimische Oberschicht ihren Wohlstand unter massiver Nutzung ausländischer, rechtlich eingeschränkter Arbeiter aus Asien lebt. Sharjah ist mit etwa 25 Museen, einer Kunsthochschule und einer Universität zwar das kulturelle Zentrum der Emirate, gegenüber Dubai aber eher auf einen traditionellen Lebenswandel ausgerichtet. Es gilt die Scharia, auf der Straße trifft man nur wenige Frauen, Familienbande spielen eine große Rolle. Das Stadtbild ist wenig glanzvoll. Es ist kaum zu übersehen, dass viele Arbeiter aus Dubai in Sharjah ihr Leben fristen, ein Umstand, der den ägyptischen Künstler Hassan Khan in einem Performance-Vortrag vom „Ghetto Dubais“ sprechen lässt. Was ist die Funktion einer Biennale an einem solchen Ort? Wer ist das Zielpublikum? Und wie soll man sich dazu verhalten? Die ganze Veranstaltung ablehnen wegen des Marketingaspekts und der Vereinnahmung von Kunst durch ein nichtdemokratisches System? Oder im Gegenteil die Möglichkeit loben, durch die Präsenz indirekter, weil über andere Orte geübter Kritik Diskussionen in der Bevölkerung anzuregen?
Tatsächlich ist diese Funktion von Kunst in Sharjah eher unbekannt. Es ist durchaus möglich, dass die Biennale hier verstärkend wirken kann, allerdings ist es kaum zu übersehen, dass der Meinungsfreiheit Grenzen gesetzt sind. Mehrere Arbeiten wurden als zu konfrontativ abgelehnt, in einer intelligent in die Ausstellung integrierten Videoinstallation, die Solmaz Shahbazi über die Biennale anfertigte, kommt das Thema Zensur zur Sprache („The Wedding Cake“, 2005). Während der Chefkurator Persekian mit messianischem Eifer von der Freiheit der Kunst und der Wichtigkeit, sie nach Sharjah zu tragen, faselt und auch der ansonsten scharfsinnige und kritische Zolghadr sich auffällig bedeckt hält, beweist die junge Galeristin Sunny Rahbar aus Dubai Mut: Natürlich gebe es Zensur, erzählt sie, Religiosität und Nacktheit seien genauso betroffen wie Politik, was es schwierig mache, in dieser Gegend mit Kunst umzugehen.
Einen subtilen und gleichzeitig ästhetisch beeindruckenden Weg, den Widersprüchlichkeiten der Situation zu begegnen, hat der Berliner Olaf Nicolai gefunden. Über eine Gasse zwischen den beiden Museumsflügeln spannte er Leinen, auf denen Wäsche in allen Farben und Formen im Wind weht. Beim ersten Anblick akzeptiert man das Bild als eine typische Straßenszene, doch bald schon stellen sich Zweifel ein angesichts der Hängung und der Opulenz des Eindrucks. Tatsächlich kaufte Nicolai die Kleidung direkt von den Wäscheleinen Neapels. In Sharjah ist das öffentliche Trocknen von Wäsche verboten, die Aktion wird als anstößig empfunden. So schafft Nicolais Imagetransfer Sichtbarkeit dort, wo ansonsten Verborgenheit herrscht. Klischees, mit denen der westliche Besucher anreist, kommen zu Tage, Privates dringt ins Blickfeld der Öffentlichkeit und die Kunst tritt aus der mit hohen Zugangshürden versehenen Abgeschlossenheit der Institution ins Freie.