: Kunst ist gut, wenn sie stört
■ Der amerikanische Schriftsteller E.L. Doctorow („Ragtime“) äußerte sich in der 'International Herald Tribune‘ vom 1. Oktober zur Unfreiheit von Salman Rushdie und zur Freiheit der Kunst
Kann die Phantasie eines Schriftstellers zum Ort der Gefahr werden?
Gewiß, in vielen Teilen der Erde ist Schreiben vermutlich riskanter als Autorennen. Schriftsteller werden ins Gefängnis gesperrt, exiliert, gefoltert und zensiert.
Wie Salman Rushdie? Sie waren einer der ersten amerikanischen Autoren, die ihm zu Hilfe geeilt sind.
Die ganze amerikanische Literaturszene hat die Meinungsfreiheit als ein absolutes und unveräußerliches Recht verteidigt. Das amerikanische PEN-Zentrum traf sich und einer nach dem andern ist aufgestanden und hat bekräftigt, wie ungeheur wichtig es ist, daß ein Schriftsteller schreiben kann, ohne daß Druck auf ihn ausgeübt wrid. Interessanterweise ist diese Ansicht in Europa nicht selbstverständlich und unwidersprochen. Dort haben viele Schriftsteller Rushdie wegen seiner Respektlosigkeit kritisiert.
Und das Argument der Blasphemie?
Ich bin bereit einzusehen, daß jemand etwas blasphemisch findet, wenn seine tiefsten, innersten religiösen Ansichten beleidigt werden. Aber deswegen zur Gewalt gegen einen Schriftsteller aufzurufen, scheint mir nicht dem religiösen Geist des Mitleids zu entsprechen.
Viele Menschen denken, daß das Foto eines Kruzifixes in einem Urinbehälter Gotteslästerung ist. Viele halten auch die Fotos von Robert Mapplethorpe für äußerst empörend. Haben diese Leute nicht das Recht zu sagen: „Nicht mit meinen Steuergeldern“?
Im allgemeinen haben amerikanische Steuerzahler keine Kontrolle darüber, wie ihr Geld ausgegeben wird. Wenn jemand einer politischen Ansicht ist, die ich für schrecklich halte — Faschisten, Skinheads oder der Ku-Klux-Klan — und demonstrativ mit polizeilicher Genehmigung auf die Straße geht, dann werden meine Steuerdollars in die Sicherheit und die anschließende Straßenreinigung investiert (...).
Leute, die sagen, daß der Künstler alles malen oder schreiben kann, was er möchte, aber dann fragen, weshalb die Regierung auch noch dafür zahlen soll, wollen ihn isolieren und zur Randfigur erklären. Dieser Ansicht liegt zugrunde, daß der Künstler immer jemand ist, der auf Kosten von anderen lebt und keinen wesentlichen Beitrag zum amerikanischen Kulturleben leistet.
Kunst ist nur gut, wenn sie stört. Sie bringt die Leute zum Denken, provoziert sie, hält sie auf Trab und sorgt dafür, daß der Kopf frei bleibt. Wenn die Leute durch irgendetwas beleidigt werden, können sie auf die Straße gehen, können dagegen anschreiben, demonstrieren, schreien — es gibt da jede Menge Möglichkeiten.
Interview: Barry James
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