Kunst dokumentiert Boden: Das Tagebuch der Erdverschiebung
Erst kommen die Bagger, dann kommt die Kunst: Betty Beiers Erdschollen-Archiv setzt verschwindenden Landschaften ein Zeichen der Erinnerung.
"Aufwendig ist die Arbeit, und zeitintensiv", erklärt Betty Beier. Ihre Arbeit, das ist das so genannte Erdschollen-Archiv. Eine Langzeitstudie, der sich die 1965 in Kenzingen (bei Freiburg) geborene Künstlerin seit nunmehr über zehn Jahren widmet. Das Archiv besteht derzeit aus mehr als 60 Erdschollen. Zehn dieser je 1 Quadratmeter großen Landschaftsabdrücke sind jetzt in der Elisabeth-Schneider-Stiftung in Freiburg ausgestellt.
Das sprichwörtliche Material zu ihren Arbeiten liefern Betty Beier Landschaften - Naturschutzgebiete, Kulturlandschaften und Großbaustellen -, die im Zuge und zugunsten industrieller Großprojekte den Baggern weichen müssen. Betty Beiers Ansatz ist die sukzessive Dokumentation des Wandels und des Verschwindens dieser Landschaften. Für ein Projekt reist sie in regelmäßigen Abständen mehrmals an denselben Ort, oftmals über einen Zeitraum von mehreren Jahren, und nimmt an besonders markanten Stellen Abdrücke der Bodenoberflächen. Diese fixiert und konserviert sie anschließend in mehreren aufwendigen Arbeitsschritten in Acryl oder Kunstharz.
Der Bildfindungsprozess in der Natur ist dabei ebenso wichtig wie das Ergebnis der bildhaft an der Wand montierten Tafeln. Jedem Projekt ist in der aktuellen Ausstellung ein eigener Raum gewidmet. Die in Serien zusammengefassten Arbeiten mit den wohlklingenden Namen Karáhnjukár, Xiaolangdi oder Inden bezeichnen Orte ebenso wie Großbaustellen, deren ambitionierte Vorhaben sich in künstlich geschaffenen Staudämmen und Stauseen zur Energieerzeugung eines Kraftwerks oder in der Gewinnung von Arealen zum Braunkohleabbau widerspiegeln. Der dort in großem Maß betriebene "Eingriff" - so der Titel der Ausstellung - wird zur ausschnitthaft exemplarischen Spurensicherung im Werk Beiers, liefert doch jede Erdscholle einen individuellen Eintrag in eine Art tektonisches Tagebuch.
Die gezeigten Erdschollen besitzen einen je eigenen, mitunter eigenartigen Bildcharakter, der zwischen objekthafter und bildhafter Ästhetik, zwischen scheinbar makro- und mikroskopischen Strukturen und Perspektiven dauerhaft wechselt. So erinnern die porös-samtenen, einheitlich schwarzgrauen Oberflächen der isländischen Karáhnjukár-Schlucht nicht nur an ein monochromes Bild, sondern zeigen zugleich die Unwirtlichkeit einer Landschaft, ganz anders als etwa das Bild des gepflügten Ackers, der die landwirtschaftliche Nutzung fruchtbarer Flächen auf den Fildern bei Stuttgart erkennen lässt. Die Erdschollen aus dem Xiaolangdi (China) - neben dem Dreischluchtendamm am Jangtse bis vor einigen Jahren die zweitgrößte Baustelle dieser Art weltweit - überraschen wiederum mit geradezu knalligen Farben: grünlicher Schlick und gelbe Erde, Lebensraum für pflanzliche und tierische Organismen, deren Spuren als Materialeinschlüsse sichtbar werden.
Die Zeichnungen und Fotografien, in denen Betty Beier das jeweilige Projekt dokumentiert, liefern nicht nur Hintergrundinformationen über die jeweilige Fundsituation, sondern geben auch Einblick in den komplexen künstlerischen Arbeitsprozess. Die Einbettung ihrer Arbeit in den sozialen und umweltpolitischen Kontext ist Betty Beier wichtig. Dazu gehört das Gespräch mit Betroffenen und Verantwortlichen. Daher zeigen die Fotografien neben den Landschaften auch die Menschen, die diese verlassen müssen, die umgesiedelt werden, weil das Tal geflutet oder das Feld bebaut wird. Es geht Betty Beier nicht um einen moralischen Appell, ihre Kunst will sensibilisieren, und tatsächlich gelingt es ihr, auf den Verlust und die Verarmung aufmerksam zu machen, die das Streben nach Wohlstand und der Fortschritt nach sich ziehen.
So ist die ehemals landwirtschaftlich genutzte Fläche der Fildern bei Stuttgart mit der Einweihung der Neuen Landesmesse endgültig passé und dieses Projekt abgeschlossen. Im isländischen Karáhnjukár ist der Wasserstand hinter dem neu gebauten Staudamm aktuell schon auf 622 Meter angestiegen, weshalb Beier in einer Mischung aus Wehmut und Stolz sagt: "Wenigstens konnte ich die Zeit 14-mal anhalten." Betty Beier wird weiter auf den Großbaustellen der Welt zu Gast sein und Landschaften, deren Bilder und Geschichten einfangen und sie damit, wenn schon nicht vor dem Verschwinden, so doch zumindest vor dem Vergessen bewahren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos