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Archiv-Artikel

Kultivierter Wildwuchs

FLORA-FESTSPIELE Lieber nicht den Bock zum Gärtner machen: Mit einer Festwoche mit Konzerten und Filmen macht die Kultur-Szene rund um die „Recht auf Stadt“-Bewegung deutlich, dass sie hinter der Roten Flora steht

Gefeiert und verehrt wird ab heute eine Woche lang der kultivierte Wildwuchs

VON ROBERT MATTHIES

Festspiele zu Ehren der Flora kennen schon die alten Römer seit dem Jahr 173 unserer Zeitrechnung. Sechs Tage dauerten die Floralia am Ende jedes Aprils, mit denen die Patronin der Blumen, des Frühlings und der Fruchtbarkeit gefeiert wurde. Das staatlich organisierte Kultfest war für seine Obzönität berüchtigt: Prostituierte entblößten sich beim großen Festumzug, das Volk trug Kleider in den wildesten Farben und warf Bohnen in die Menge. Nicht dem Wildwuchs galten die Feierlichkeiten allerdings, sondern der kultivierten Vegetation.

Wildwuchs und Kultur spielen auch bei den Flora-Festspielen der Gegenwart eine zentrale Rolle: Nicht nur ist „Hamburgs größter Amüsier-, Benefiz- und Debattier-Tempel“ – so der Festspiel-Aufruf – nach der antiken Göttin und zudem der obszönen Farbe Rot benannt. Auch sprach deren juristischer Eigentümer, der Immobilieninvestor Klausmartin Kretschmer, dem der Senat das Haus 2001 überraschend verkauft hatte, einst davon, „aus dem kleinen Keim eine aufblühende Pflanze“ machen zu wollen. Dem Immobilienmarkt – also dem kapitalistischen Wildwuchs – wolle er das seit 1989 besetzte autonome Zentrum entziehen und „der alternativen Szene“ überlassen: einer „geistigen Samenbank“, in der „Gegenentwürfe entwickelt“ würden.

Nun ist der Gärtner enttäuscht, dass sich das Pflänzlein als Unkraut entpuppt und sich im Garten Schanzenviertel als „Fremdkörper“ erweise. Jäten und neu pflanzen lautet seitdem seine Devise. Dabei kommt ihm entgegen, dass im März nächsten Jahres Vertragsklauseln auslaufen, die genau das bislang erschwert haben: die Zustimmung des Senats zu einem Verkauf der Roten Flora ist dann nicht mehr notwendig.

Naturgemäß wenden sich die TempelgängerInnen nun dagegen und drehen die antiken Floralia folgerichtig einfach um: Hier wird die Rechnung ohne den Wirt gemacht, respektive der Bock zum Gärtner, ruft Hamburgs im Milieu der „Recht auf Stadt“-Bewegung sprießende Kultur-Szene. Sie sehe doch weiterhin ganz schön aus, die Pflanze: „Ich würd’s so lassen“ ist die „Flora-Bleibt-Festspiel-Woche“ der Gegenwart betitelt. Und so werden ab heute wie einst sechs Tage lang die Blumen, der Frühling und die Fruchtbarkeit gefeiert. Allerdings ein wenig anders als in der Antike: Nicht nur finden die Festlichkeiten im Winter statt. Verehrt wird heute eine Woche lang der kultivierte Wildwuchs. Und nicht die „potenziell natürliche Vegetation“, wie sie die Botaniker nennen – die aufgrund anthropogen veränderter Standortfaktoren mögliche Vegetation.

■  Programm und Aufruf unter www.rechtaufstadt.net/iwsl

■  „Egotronic“, „Frittenbude“ und „Bratze“: Do, 16. 12., 21 Uhr, Uebel & Gefährlich, Feldstraße 66

■  Kurzfilmabend zum Thema Umstrukturierung, in Kooperation mit der KurzFilmAgentur: Do, 16. 12., 20 Uhr, Ludwigstraße 8

■  „Jan Delay & Disko No.1“: Fr, 17. 12., 20 Uhr, Rote Flora, Schulterblatt 71

■  El Baile mit „Sonora Milagrosa“ (live), Tropeninstitut, Taca Taca Tá-Allstars, Gizmog, On + Brr, Triqueta u. a.: Fr, 17. 12., 22 Uhr, MS Stubnitz, Baakenhafen Konzert mit „Abbau West“ und anderen, danach Party: Fr, 17. 12., 21 Uhr, Ludwigstraße 8

■  „Operation Pudel 2010“: Sa, 18. 12., 20 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20

■  DJs Bobbie, Andi Anderson, akaak: Sa 18. 12. 20 Uhr, Thier, Schulterblatt 98

■  „Häuser für alle!“ Dokus zu Hausbesetzungen im Hamburg: So, 19. 12. 17 Uhr, Gängeviertel

■  Benefizkonzert mit „Die Goldenen Zitronen“, „1000 Robota“, Melissa Logan, Jens Rachut, „School Of Zuversicht“ und „Hoo Doo Girl“ sowie dem „Recht auf Stadt“-Netzwerk: Di, 21. 12., 19 Uhr, Fabrik, Barnerstraße 36