Künstler-Nekropole — Grabstein des Anstoßes

Kunst und Naturschutz streiten um den Standort einer Grabanlage für Künstler/ Professor hofft auf die Verwirklichung seiner Idee zur „documenta 9“/ Förster fürchten um Wildkatzen und Bäume/ Bürgerprotest gegen „elitäre Grablegungen“  ■ Aus Kassel Heide Platen

Mit der Friedhofsruhe in Kassel ist es alle fünf Jahre, immer zur documenta-Zeit, ohnehin vorbei. Daß es allerdings ausgerechnet ein Friedhof ist, der der nordhessischen Speckkuchen-Metropole einen handfesten Lokal-Krach bescherte, das ist Kunst, bildende Kunst. Und schuld daran ist Harry Kramer, 67 Jahre alt, gelernter Friseur, Multitalent, Bildhauer, Tänzer, Schauspieler und 20 Jahre lang hochangesehener Professor an der Kasseler Gesamthochschule. Er nahm seinen Abschied und möchte seine inzwischen schon über zehn Jahre alte Idee nicht mit ins Grab nehmen, sondern sie als solches gestaltet wissen: die Inszenierung des Todes durch 40 Skulpturen, von Künstlern — Todesdatum offen und verteilt über einen Zeitraum von 30 Jahren — für ihr eigenes Grab gefertigt. Sie müssen sich nur verpflichten, sich auch darunter beerdigen zu lassen. Kramer, der selbst in Südfrankreich begraben sein möchte, gründete eine „Künstler-Nekropole- Stiftung“, brachte selbst Kunstwerke im Wert von 130.000 Mark ein. Die Stadt Kassel, immer bereit, mit flotten Plakaten und unkonventionellen Aktionen ihr Image als Provinz- und Beamtenstadt abzustauben, beteiligte sich. Kramer gewann schon vier Akteure für sein Projekt. Rune Mields entwarf eine Bodenskulptur aus 97 mit Primzahlen versehenen schwarzen und weißen Marmorplatten. Timm Ulrich möchte den Bronzehohlguß seines Körpers, kopfunter, im Boden versenken lassen.

Und dann begann das Gezänk um den Standort. Ursprünglich sei, so der Kulturmanager Michael Willhardt, der Kramers Interessen vertritt, der Bergpark Wilhelmshöhe ins Auge gefaßt worden, und zwar „die Randbereiche, wo die Kulturlandschaft in die Natur übergeht“. Da aber war, „wie Zerberus vor dem Höllenschlund“, sagen Insider, die Verwaltung Hessischer Schlösser und Gärten davor. Verwalter Mathieu habe sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, daß auf dem von ihm verwalteten Gelände, über dem weithin sichtbar oberhalb Kassels die ebenso dräuende wie omnipotente, fast 30 Meter hohe Statue des Herkules steht, ein Künstlerfriedhof entsteht. Kritiker aus Kunstkreisen, die ihn kennen, vermuten eher, daß er sich durch das Verwalten von so viel adliger Pracht als „Hüter“ der Ex-Feudalherren und -damen fühlt und auch nicht das winzigste Sakrileg duldet.

Die Stadt bot Kramer ersatzweise ein Gelände am Blauen See im Habichtswald an. Der ehemalige Steinbruch sei, so Willhardt, durchaus geeignet für die Grablegung der KünstlerInnen, er habe „eine dramatische Kulisse“. Eine Tragikomödie nahm ihren Lauf. Im Wald am Blauen See, befanden die nun auf den Plan getretenen Naturschützer, sei kein Platz für Grabmäler und Kunst-Tourismus. Sie protestierten. Die Stadt reagierte prompt. Verbrennung und Urnenbestattung waren ohnehin schon aus wasserrechtlichen Gründen für die Aspiranten als letzte Ruhestätte vorgeschrieben. Der Vertrag mit Kramer geriet dann mit Rücksicht auf den Naturschutz zu einem Regelwerk, das „Naturmaterialien“ vorschreibt, die erlaubt zu versiegelnde Fläche exakt berechnet, Neuanpflanzungen und einen vorgeschriebenen Rundweg festlegt. Das befriedete die Naturschützer nicht. Die Förster aus dem Habichtswald wiesen auf die Schutzwürdigkeit des Reviers hin, in dem Kolkraben und Uhus brüten, Wildkatzen wieder heimisch geworden sind und Mondviolen blühen. Der Wald, der mühselig vom Fichtenbestand zu „Hessisch Mahagoni“ mit Buchen, Eichen und Ahorn umgeforstet wurde, sei bedroht. Leserbriefe gegen die „Totenstadt“ und die „elitären“ Grablegungen füllten die Spalten der Lokalzeitung. Die Parteien meldeten sich zu Wort und sprachen sich grundsätzlich für die Kunst, im speziellen aber gegen den Standort aus. Die Grünen bemängelten, daß der Wald am Blauen See ohnehin schon durch „Mountainbiker und Hundehalter“— als Folge des Leinenzwangs für die rund 7.000 Kasseler Hunde im Stadtgebiet — überlastet sei. Die mit einer Stimme Mehrheit im Rathaus regierende SPD teilte mit, daß sie an ihrem Plan festhalte.

Aus der Landeshauptstadt Wiesbaden war zu hören, daß Ministerpräsident Hans Eichel des der künftigen Toten unwürdigen Gezerres leid sei und die Nekropole zur „Chefsache“ erklärt habe. Der Petitionsausschuß reichte eine Eingabe der Naturschützer gegen den Standort Blauer See an das Kultusministerium weiter, dem die Verwaltung für Schlösser und Gärten untersteht. Interimsäußerungen aus dem Kasseler Rathaus waren sibyllinisch: wenn nicht Bergpark Wilhelmshöhe, dann doch Blauer See. Dann aber, kontern die Naturschützer, wird mit jahrelanger Verzögerung durch Einwender zu rechnen sein. Michael Willhardt will vorerst abwarten. Noch eile es ja nicht, und gerade habe er erfahren, daß eine Entscheidung bis zum Beginn der documenta 9 Mitte Juni getroffen werden soll.

Der Anschein mag ihn trügen. Im Ministerium für Wissenschaft und Kunst gab der zuständige Referent, Schneider, den Ball an die Stadt Kassel zurück, die jetzt, wie in der Petition der Naturschützer verlangt, die rechtlichen Bedingungen für den Standort Bergpark Wilhelmshöhe prüfen muß. An eine Blockade durch Schloßverwalter Mathieu glaubt Schneider nicht. Der habe „schon immer viel für die documenta getan“. Mathieu reagiert auf Nachfrage gelassen. An ihn sei der Wunsch nach der Nekropole noch gar nicht herangetragen worden, deshalb könne er „wenig“ dazu sagen. Und wenn, dann müsse das ebenso geprüft werden wie am Blauen See: „Auch der Bergpark ist nicht nur denkmalgeschützt, sondern auch Landschaftsschutzgebiet.“ Der Brief des Ministeriums an die Stadt listet deshalb auch folgerichtig die erforderlichen Schritte auf. Stiftungsrecht, Bürgerbelange, Wasserrecht, Naturschutzgesetz und Friedhofsordnung sind zu berücksichtigen. Erst dann kann die Stadt sich wieder an die Besitzerin des Geländes, das Land Hessen, wenden.

Angebote aus dem Ruhrgebiet an Harry Kramer, die künstlerische Last zu übernehmen, ruhen vorerst. Dafür geht es im neueröffneten Kasseler Museum für Sepulkralkultur [Totenkult, die Red.] sehr lebendig zu. Hier stehen den eindrucksvollen Tafelbildern von Michael Cornelius unter Plexiglas-Hauben sechs aus Brotteig gebackene, morbid mit dem Schimmel des Verfalls überzogene Totenköpfe des Künstlers Harry Kramer gegenüber und scheiden sich von der postmodernen Grab- und Sarggestaltung jüngerer Künstler.