Krisen-Manifest von der Spinelli-Gruppe: Die letzten Europäer
Die Spinelli-Gruppe fordert mehr Integration im europäischen Wirtschaftsraum. Doch gegen ihre Parteikollegen in den Nationalstaaten haben die Europäer es schwer.
BRÜSSEL taz | Es war einer dieser Tage in Straßburg, an denen eine Pressekonferenz die andere jagt und die Journalisten nicht mehr wissen, wo ihnen der Kopf steht. Einer dieser Tage, an denen viel geredet und noch mehr geschrieben wird, aber wenig hängen bleibt. Doch die Pressekonferenz von Guy Verhofstadt war anders. Wenige Minuten bevor Kommissionspräsident José Manuel Barroso eine Rede zur Schuldenkrise halten wollte, ergriff der Chef der Liberalen im Europaparlament das Wort - und stahl ihm die Schau.
Verhofstadt sprach nämlich aus, was Barroso nicht zu sagen wagte: dass es mit der Hilfe für Griechenland so nicht weitergehe, dass die bisherige Strategie gescheitert sei und Brüssel umdenken müsse. Nicht weniger, sondern mehr Europa sei die richtige Antwort auf die Krise. "Wir müssen zusammenrücken und unsere Wirtschaftspolitik besser abstimmen." Mit dieser Meinung stehe er nicht allein, so Verhofstadt: Auch der Internationale Währungsfonds fordere mehr Integration – genau wie die Spinelli-Gruppe.
Die Spinelli-Gruppe? Das klingt nach einem italienischen Geheimbund, nach konspirativen Treffen bei Chianti und Candlelight. Tatsächlich war es eine verschworene Runde, die sich in den 80er Jahren rund um den italienischen Europaabgeordneten Altiero Spinelli in Straßburg traf. Im Restaurant "Le Crocodile" heckten Spinelli und seine Freunde visionäre Pläne für ein föderales Europa aus. Nach Spinellis Tod 1986 geriet der "Krokodilsclub" in Vergessenheit. Doch jetzt, da die EU am Abgrund steht, ist er mit neuem Namen wieder da.
Das Vorbild: Altiero Spinelli (1907 bis 1986), einstiger Widerstandskämpfer, engagierte sich nach dem Krieg als Europapolitiker. Um ins Europaparlament zu gelangen, kandidierte er 1976 als unabhängiger Kandidat für die Kommunistische Partei Italiens, obwohl diese ihn 1937 ausgeschlossen hatte. In Straßburg initiierte Spinelli in den 80ern den parteiunabhängigen "Krokodilsclub".
---
Die Spinelli-Gruppe: gegründet 2010. Ihr gehören nicht nur prominente Europapolitiker wie Jacques Delors, Joschka Fischer oder Mario Monti an, sondern auch der Soziologe Ulrich Beck, die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan und der Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen. Die Gruppe trifft sich einmal im Monat am Rande der Plenartagungen des Europaparlaments in Straßburg, und sie organisiert einen "Schattenrat" als Alternative zum EU-Gipfel.
---
Facebook: Bei Facebook kann man Fan der Spinelli-Gruppe werden. (ebo)
Verhofstadt hat die Spinelli-Gruppe gemeinsam mit anderen überzeugten Europäern wie dem Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit, dem früheren deutschen Außenminister Joschka Fischer oder Ex-Kommissionschef Jacques Delors ins Leben gerufen. Bei ihrer Gründung im Herbst 2010 fand sie kaum Beachtung. Ausgerechnet die Schuldenkrise verleiht ihr neuen Auftrieb. Denn die Spinelli-Leute fühlen sich durch das Scheitern der bisherigen EU-Strategie bestätigt. Die griechische Tragödie ist für sie ein Weckruf für ein neues, föderales und postnationales Europa.
Europa "von unten"
"Wir brauchen einen Quantensprung", fordert die grüne Europaabgeordnete Franziska Brantner, die sich an der Seite von "Dany le vert" bei Spinelli engagiert. "Schon seit der Finanzkrise habe ich das Gefühl, dass sich die EU neu erfinden muss." Noch drastischere Worte findet Elmar Brok, einer der wenigen CDU-Politiker bei Spinelli: "Die Krise ist nur mit dem Amerikanischen Bürgerkrieg zu vergleichen", sagt er. Auch die USA seien vor dem Civil War kein starker Staat gewesen. Nun müsse die EU beweisen, dass sie die Kraft und den Willen hat, um zu überleben. "Das ist der Härtetest", so Brok.
Wie dieser Test zu bestehen ist, darüber sind sich die 34 ständigen Mitglieder und rund 2800 Anhänger ("Networker") der Spinelli-Gruppe nicht immer einig. Zwar berufen sie sich auf Montesquieu: "Wenn etwas für mein Vaterland nützlich wäre, gleichzeitig aber Europa schadet, so würde ich es als ein Verbrechen betrachten." Mit ihrem Idol Spinelli teilen sie die Überzeugung, dass Europa nicht mehr in kleinen Schritten voranschreiten kann. Statt wie bisher von den Regierungen - also "von oben" – müsse die EU durch die Bürger und das Europaparlament "von unten" angetrieben werden und den großen Sprung nach vorn wagen - zu den Vereinigten Staaten von Europa.
Das Ziel ist also klar. Doch der Weg dahin ist genauso unklar wie zu Spinellis Zeiten: Das Manifest der Gruppe gibt nur eine grobe Linie vor; ein Handbuch für Revolutionäre und Staatengründer ist es nicht. Angesichts von Globalisierung, Klimawandel und Eurokrise sei die derzeit zu beobachtende Rückverlagerung von Kompetenzen auf die Nationalstaaten ein "Anschlag auf den europäischen Geist", der die "politische Impotenz" Europas steigere, heißt es da. Jetzt sei nicht der Moment, die europäische Integration zu verlangsamen, sondern sie im Gegenteil noch zu beschleunigen.
Herkulesaufgabe Europa
Praktische Ratschläge bleibt die Spinelli-Gruppe jedoch schuldig. Wenn es um die Tagespolitik geht, prescht meist Verhofstadt vor – so wie auf der Pressekonferenz in Straßburg. Damals, im Juni, legte er sogar eine eigene Strategie gegen die Krise in Griechenland vor, den Herkulesplan. Doch vor der Herkulesaufgabe, ganz Europa zu retten, scheuen sogar die letzten überzeugten Europäer zurück. Selbst Verhofstadts liberale Fraktion im EU-Parlament ist sich nicht einig.
"Ich stehe Verhofstadt grundsätzlich sehr nahe, aber in einigen Fragen gibt es doch Differenzen", sagt der FDP-Europaabgeordnete Alexander Alvaro, der bei Spinelli mitarbeitet. So hält Alvaro nicht viel von den Eurobonds, die sein Fraktionschef im EU-Parlament als Allheilmittel gegen die Krise preist. Auch die Begeisterung des Belgiers Verhofstadt für eine starke europäische Wirtschaftsregierung teilt der deutsche Liberale nicht. Das sei jedoch ganz normal, so Alvaro. Schließlich ist man es im Europaparlament gewöhnt, unterschiedliche Auffassungen aus den 27 EU-Staaten unter einen Hut zu bringen. Bei ihren Treffen in Straßburg finden die Spinelli-Leute denn auch meist einen gemeinsamen Nenner; im Oktober wollen sie sogar einen Gegengipfel zum Treffen der Staats- und Regierungschefs organisieren.
Viel problematischer gestaltet sich die Arbeit der Föderalisten in den nationalen Hauptstädten, auch in Berlin. Denn dort hört man auf "Volkes Stimme", klagt Alvaro, und die hat zunehmend "Angst vor Europa". Selbst in seiner eigenen Partei fühlt er sich nicht immer verstanden. Denn auch in der FDP ist die traditionelle Europabegeisterung verflogen. "Derzeit gibt es zwei Strömungen", so Alvaro: "Eine ist für die weitere Vertiefung der EU, die andere für die Beibehaltung des Status quo." Einig sei man sich nur darüber, dass man uneins ist. Parteichef Philipp Rösler sei europapolitisch zwar offen. "Doch ich müsste lügen, wenn ich sagen wollte, wo er genau steht."
Brok (CDU) kann bei Merkel kaum eine klare Linie sehen
Ähnliches lässt sich wohl auch über die CDU-Vorsitzende Merkel sagen. Elmar Brok jedenfalls, der die Europapolitik schon bei Helmut Kohl gelernt hat, hat Mühe, bei Merkel eine klare Linie zu erkennen. "Viele der heute Handelnden wissen nicht mehr, was Europa bedeutet", klagt er, "und das gilt selbst in höchsten deutschen Kreisen". In Berlin werde nicht genug erklärt, wofür Europa gut ist. "Das ist der entscheidende Fehler, bis in die politische Spitze." Wenn die Bundesregierung Kosten und Nutzen der EU offenlegen würde, davon ist Brok überzeugt, wäre die Euroskepsis bald erledigt: "Dann hört auch das Gerede vom Zahlmeister Deutschland endlich auf."
Sehr hoffnungsvoll klingt das nicht. Selbst die Grüne Franziska Brandtner gibt sich eher skeptisch, was die Erfolgschancen in Deutschland betrifft. Bei ihnen gebe es zwar keine Probleme, weil ohnehin alle für mehr Europa seien. Allerdings engagierten sich zu wenig junge Menschen für die europäische Einigung, auch bei Spinelli seien nur die "üblichen Verdächtigen" dabei.
Verhofstadt kennt diese Sorgen, sieht auch die Probleme in Deutschland. "Seit der Wiedervereinigung gibt es Zweifel am europäischen Bekenntnis Deutschlands", sagte er in einem Interview mit dem Schweizer Tages-Anzeiger. Es sei "gefährlich, wenn Deutschland ignoriert, dass seine Interessen in einem vereinigten Europa liegen, und sich nationalen Interessen hingibt." Dennoch ist er optimistischer als seine deutschen Mitstreiter. Denn zum einen glaubt er fest daran, dass am Ende auch in Berlin die Einsicht siegt. Zum anderen sieht er eine Dialektik der Krise am Werk, die Europa auch gegen den Willen der Regierungen voranbringe.
Die Krise als Chance
"Die Krise zwingt doch die Staaten, das zu tun, was sie bisher nicht wollten. Sie müssen Kompetenzen abgeben und mehr Integration zulassen", sagte er. So gebe es heute eine europäische Finanzaufsicht und einen Rettungsfonds von 750 Milliarden Euro. Vor zehn Jahren hätte dies niemand gedacht, freut sich Verhofstadt. In sechs Monaten müsse die EU-Kommission zudem einen Vorschlag für die Eurobonds vorlegen. "Und dann sind wir dabei, radikal den Rahmen des EU-Budgets zu ändern, sodass davon mehr Wachstumsimpulse ausgehen. Behaupten Sie immer noch, es geschehe nichts?" Nein, das behauptet niemand mehr, schon gar nicht in Brüssel. Schließlich überschlagen sich hier die Ereignisse. Die Sonder- und Krisengipfel häufen sich, und jedes Mal werden neue, noch vor Kurzem für unmöglich gehaltene Reformen beschlossen. Die große Frage ist allerdings, ob die Reformen den Bürgern nützen und die Demokratie stärken, wie dies die Spinelli-Leute hoffen. Oder ob sie die EU letztlich in einen unkontrollierbaren Moloch verwandeln, wie Kritiker der Eurorettung schon jetzt klagen.
Spinelli machte sich keine Illusionen: Es kann auch schiefgehen, schrieb er schon 1941 in seinem Manifest von Ventotene, auf das sich die Föderalisten noch heute berufen. "Zur Sicherung des gemeinsamen Interesses muss ein geeigneter Apparat vorhanden sein … Wenn dieser Apparat fehlt (…) dann müssen (…) die Dinge offenbar unausweichlich einen Lauf nehmen, bei dem jeder für seine eigenen Interessen sorgt, unbekümmert um den Schaden, den er anderen zufügt; hieraus entstehen dann Reibungen und Spannungen, die schließlich nicht mehr anders zu lösen sind als durch Gewalt."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Demokratieförderung nach Ende der Ampel
Die Lage ist dramatisch