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Der Kommentar

Krise des deutschen Bildungssystems Die Lehrer sind nicht schuld

Statt das eigene Totalversagen in der Bildungspolitik einzugestehen, schieben die politisch Verantwortlichen es den Lehrkräften in die Schuhe. Geht's noch?!

Foto: picture alliance/dpa

Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 07.02.2023 | Ties Rabe war Deutsch- und Geschichtslehrer am Luisengymnasium in Bergedorf. Seit 2011 ist er Hamburger Schulsenator und sieht als Ursache für den Lehrermangel die demographische Entwicklung, wie er der FAZ mitteilte. Ein Politikversagen kann er nicht erkennen. Damit steht er für seine Branche.

Da kann man nur fragen: Geht’s noch?

Ist die demographische Entwicklung in der Republik eine Urgewalt, die über Politik und Gesellschaft hereinbricht und der man schon immer hilflos ausgeliefert gewesen ist? Das ist selbstverständlich eine rhetorische Frage. Eine bedarfsgerechte Planung der Kapazitäten von Schulen in den letzten Jahrzehnten wäre einfach gewesen. Ganz einfach. An jedem 1. Januar wussten die Bildungsplaner, wie viele Kinder im Jahr davor geboren worden waren, wie viele von ihnen sechs Jahre später in die Grundschulen und wieder einige Jahre später in die weiterführenden Schulen wechseln würden. Man weiß und wusste immer ganz genau, wie viele Schulen und wie viele Lehrer jetzt und in einigen Jahren gebraucht werden. Man kannte die Zahl der Babyboomer, wusste, wann sie in Rente gehen würden, wusste, dass die nachfolgenden Generationen zahlenmäßig zu klein waren, um die ausscheidenden Lehrer zu ersetzen. Man wusste alles.

Aber die politisch Verantwortlichen in allen Parteien haben diese Tatsachen ignoriert. Stattdessen haben sie, und das schon seit der Gründung der Bundesrepublik, an der Befestigung eines gegliederten Schulsystems festgehalten, das die soziale Herkunft diskriminiert und primär die Interessen der bürgerlichen Eliten bedient. Sie haben alle Reformversuche ausgebremst, angefangen mit Georg Pichts 1951 vorgetragenen Warnungen vor der großen Bildungskatastrophe und seinen Forderungen nach einer Gemeinschaftsschule für alle. Oder später den von Willy Brandt unterstützten und von der GEW vorangetriebenen Versuch eines Umbaus des Schulsystems in eine alle Kinder zusammenführende Gesamtschule, die die Lernchancen für alle optimiert hätte. Von Hartmut von Hentigs in den späten 1960er Jahren in Bielefeld vorgetragenen Reformideen für das ganze Schulsystem ist nur seine Laborschule übriggeblieben. Der von den Ländern exzessiv für die politische Selbstbehauptung missbrauchte Bildungsföderalismus schränkt zusätzlich die Bildungschancen für alle mit seinen inkompatiblen Strukturen noch weiter ein.

An dieser Grundkonstante einer restaurativen Bildungspolitik hat sich bis heute nichts geändert. Das öffentliche Schulsystem sortiert nach Herkunft und Milieu aus. Damit wird den bürgerlichen Eliten die Reproduktion ihrer gesellschaftlichen Machtstellung gesichert. Dort aber, wo die öffentlichen Schulen sich aus Sicht der Privilegierten zum Nachteil ihrer Kinder zu weit in die Gesellschaft öffnen, weichen sie mit ihren Kindern in einen sich beständig ausweitenden privaten Schulbereich aus. Einen attraktiven Auftrag für die öffentlichen Schulen gibt es nicht, die nächsten Generationen auf die Herausforderungen in der postfossilen, digitalen und KI-bestimmten Zivilisation vorzubereiten. Im ländervergleichenden OECD-Ranking der Bewertung fallen die Schüler der Bundesrepublik immer weiter zurück. Und dann fehlend bis 2030 auch noch 30.000 bis 40.000 Lehrer.

Druck auf Lehrer und schlechtere Lernbedingungen für Schüler

Anstatt nun das eigene Versagen in der Bildungspolitik einzugestehen und einen zukunftsfähigen Neuanfang zu wagen, wird den vorhandenen Lehrern die Last dafür zugeschoben, dass Schule im gewohnten Trott weitergehen kann.

Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK) bei der Kultusministerkonferenz hat dafür Notmaßnahmen vorgeschlagen. Fast 40 Prozent der Lehrer arbeiten heute Teilzeit; sie sollen zur vollen Arbeitszeit gezwungen, das wöchentliche Lehrdeputat soll durchgehend um mindestens eine Stunde erhöht werden und die Klassengrößen sollen wieder ansteigen. Die fürs Lehramt studierenden Bachelor-Studenten sollen schon vor ihren Examen und direkt danach in die Schule verfrachtet werden, ohne die für die Einstellung heute noch zwingenden „Master“. Lehrer aus Gegenden, in denen es eine relative Stabilität der Lehrerversorgung gibt, sollen in unterversorgte Brennpunkte versetzt werden und der von der Pandemie erzwungene hybrid-digitale Unterricht soll auf Dauer gestellt und ausgeweitet werden.

Mit diesen Maßnahmen wird an der strukturellen Vernachlässigung von Schulen, Lehrern und Kindern nichts verändert. Es wird nur der Druck auf die Lehrer erhöht und die Lernbedingungen für die Schüler werden verschlechtert.

Es gibt aber andere Wege, mit dem Lehrermangel konstruktiv umzugehen. Dafür müsste integriertes und selbständiges Lernen ins Zentrum der Lehre gerückt und die Rolle der Lehrer als Lernpartner ihrer Schüler neu definiert werden. Die Schulen müssten aus der dirigistischen Kontrollwut der Schulämter befreit werden. Stattdessen könnte jede Schule, versehen mit einem festen Budget, ein eigenes Schulkonzept entwickeln, mit dem die zurecht erwarteten Leistungen der Schüler und eine hohe Qualität ihrer Abschlüsse tatsächlich erreicht werden können. Lehren und Lernen als leidenschaftliches Ringen um Zukunft für die nächsten Generationen könnte so seinen Weg in die Schulen finden.

Gut ausgestattete Versuchsschulen mit innovativen Lehrkonzepten

Erfolgreiche Beispiele dafür gibt es schon: Da ist die Alemannenschule, eine integrierte Gesamtschule in Wutöschingen mit 650 Schülern in einer ländlichen Großgemeinde ganz im Süden Baden-Württembergs. An dieser Schule gibt es keine Klassen, keine Zensuren, Lehrer sind Mentoren und Lernbegleiter, für Schüler und Lehrer gibt es eine vollständige digitale Ausstattung und individuell angepasste Lernprogramme für jeden Schüler. Die Schule gehört bei der Bewertung der Leistungen und Abschlüsse zu den Top 5 in Baden-Württemberg. Die Landesregierung hat der Schule für ihr Modell sogar einen aufregenden Schulneubau finanziert.

Den Campus Rütli in einem sozialen Brennpunkt von Berlin-Neukölln haben Lehrer in Eigenverantwortung in wenigen Jahren aus einer Skandalschule in eine Modellschule für gelingende Integration umgebaut.

Wutöschingen, Neukölln – wenn es da geht, warum soll es nicht überall gehen?

Der Publizist Mathias Grefrath hat in der taz dazu einen Vorschlag gemacht. Anstelle des demotivierenden Lehrerpressens sollte sofort „ein Programm für 1.000 Versuchsschulen in der ganzen Republik aufgelegt werden, die je ein paar hunderttausend Euro erhalten und ausreichend zusätzliche Planstellen, wenn sie klarmachen, dass sie etwas wirklich Neues ausprobieren wollen.“ Das ist ein Vorschlag mit ermutigenden Erfolgsaussichten für Lehrer und Schüler – und das Gegenteil des demotivierenden Lehrerknebelns der Kultusminister.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.