Krieg der Meinungen: Fleischhauer oder Stokowski?

Hier der maliziöse „alte weiße Mann“, dort die „zornige junge Frau“ – jeweils mit verlässlich erregter Gefolgschaft. Ein Gegensatzpaar wie beim „Celebrity Deathmatch“.

Margarete Stokowski (Spiegel-Kolumnistin) und Jan Fleischhauer (Focus-Kolumnist) Bild: Illustrationen: Jan Robert Dünnweiler

Von ARNO FRANK

Auf dem Schreibtisch von Christian Semler, dem intellektuellen Gedächtnis der taz, sah ich einmal den Clausewitz liegen. Das war lange vor Facebook, lange vor Twitter, lange vor den gegenwärtigen Verwerfungen – und doch eine ungewöhnliche Lektüre an diesem Ort und bei diesem Mann.

Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut

In allen Lüften hallt es wie Geschrei

Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei

Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.

Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen

An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.

Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.

Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.

Jakob van Hoddis, Weltende

Ich sprach ihn darauf an. Semler ließ sich in seinem Sessel zurücksinken, fixierte mich mit unergründlichem Blick durch seine dicken Brillengläser und seufzte: »Die Tragik der Linken ist, dass sie von militärischen Dingen nichts wissen will.« Ein Steckenpferd für apokalyptische Reiter. Krieg, fügte er freundlich hinzu, sei für die Linken schon aus moralischen Gründen »bäh!«.

Und das, sprach damals der geläuterte Maoist, sei ein Fehler.

Heute leben wir in verschärften Zeiten. Wer will, der kann es bei Twitter gerne mal auf den »eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments« ankommen lassen. Er oder sie wird sich zum Gespött machen. Jürgen Habermas‘ Theorie des kommunikativen Handelns erscheint in der Praxis derzeit eher als kommunikativer Bürgerkrieg. Wer über Meinungen redet, der oder die sollte zumindest versuchsweise vom Krieg reden.

Ein kommunikativer Bürgerkrieg

Denn die Linke ist dabei, diesen Krieg zu verlieren. Und das, obwohl sie Scharmützel für Scharmützel für sich entscheiden kann.

Sie verliert diesen Krieg an der Front der Macht, wo sie ohne Zugriff auf die Wirtschaft rein politisch oder legislativ nie wirklich Fuß fassen konnte – und wenn, dann nur mit kosmetischen Zugeständnissen an Minderheiten. Die wirklich großen Stellschrauben, etwa eine Einhegung des Neoliberalismus zugunsten einer sozialeren Gesetzgebung, bleiben aus ökonomischen Gründen unangetastet. Ernsthafte Schritte gegen den ökologischen Kollaps, das größte aller Probleme, standen noch nie im Zentrum der »linken Sache«.

An einer anderen Front allerdings scheint die Linke seit mehreren Jahrzehnten von Sieg zu Sieg zu eilen. Es ist die Ebene, auf der unsere Gesellschaft, wie Georg Seeßlen schreibt, um ihrer selbst willen eine »politische, diskursive, ästhetische und moralische« Verständigung darüber erreichen muss, was sie ist und wohin sie strebt.

Dieser öffentliche Diskurs über die »res publica« ist womöglich das eigentliche Schlachtfeld in dieser Auseinandersetzung. Hier geht es um Deutungshoheit. Darum, was im eigentlichen Moment der demokratischen Machtausübung den Ausschlag geben wird – beim Kreuz in der Wahlkabine.

Meinungen sind komplex und persönlich

Was ein Mensch wirklich denkt und will, lässt sich immer seltener einer bestimmten Richtung zuweisen. Meinungen sind das private Ergebnis einer komplexen DIY-Bricolage aus Hergebrachtem, Aufgeschnapptem, Gelernten. Besonders interessant ist das Angelesene. Zwar sind Leitartikel längst nicht mehr so wichtig, wie sie es einmal waren und Leitartikler heute gerne noch glauben. In einer sich selbst atomisierenden Gesellschaft können sie aber durchaus noch Orientierung bieten, wie ein Magnet, der Eisenspänen eine Richtung gibt.

Es lesen Rechte die Stokowski und Linke den Fleischhauer, weil sie sich aufregen wollen. Richtig schön aufregen.

Müsste man zwei Pole einer aufgeheizten, aber an sich noch nicht hitzigen Debatte benennen, wären das Margarete Stokowski zur Linken und Jan Fleischhauer zur Rechten. Vor dem Wechsel Fleischhauers zum Focus waren beide im Sinne des Binnenpluralismus noch vereint beim Spiegel. Inzwischen stehen sie sich wie verfeindete Meinungswarlords gegenüber, beide mit getreuer Gefolgschaft. Jene der Feministin nennen sich auf Facebook sogar in sicherer Halbironie »Margarete Stokowski Ultras«.

Hier der konservative Proselyt, dort die progressive Idealistin. Hier der maliziöse »alte weiße Mann«, dort die »zornige junge Frau«. Ein Gegensatzpaar wie für das »Celebrity Deathmatch« bei MTV, und womöglich ist es in gewisser Hinsicht genau das: Wrestling. Eine Show für Publikum, und danach gehen »der Gute« und »der Böse« noch gemeinsam ein Bier trinken.

Der »Meinungsritter« ist in diesem Zusammenhang ein passendes Bild. Ein eigentlich weiches Menschlein, eingeschraubt in die schillernde Rüstung seiner Überzeugungen, die »spitze Feder« wie eine Lanze unter dem Arm – auf dem hohen Ross des Mediums, in dessen Diensten er steht. In vollem Galopp, zum Gaudium von Freund und Feind.

Das System der Erregung speist sich selbst

Schließlich ist es nicht so, dass Harald Martenstein, Birgit Kelle und andere konservative bis reaktionäre Kolumnistinnen und Kolumnisten nur von ihren »Followern« gelesen würden. Gleiches gilt am anderen Ende der Skala für Sibel Schick oder Hengameh Yaghoobifarah.

Niemand hört Andreas Gabalier oder Beyoncé, weil er deren Musik »so richtig schön scheiße« findet. Es lesen aber Rechte die Stokowski und Linke den Fleischhauer, weil sie sich aufregen wollen. Richtig schön aufregen.

Wer heute in der Meinungsmanufaktur erfolgreich sein will, der weiß um diesen Effekt – und bedient gezielt seine schattenhafte Leserschaft mit pikanten Provokationen. Bisweilen taucht, wem einmal kein Thema einfallen will, einfach tapfer bis auf den Grund der Kloake sozialer Medien. Dort finden sich immer Beweise für den Hass und die Dummheit der jeweils anderen – frischer Stoff und zugleich bröckchenhafter Beleg für die eigene Relevanz.

So speist sich das System der Erregung selbst, ein Perpetuum mobile aus Reiz und Reaktion.

Ein Text als Wetzstein muss nichts Schlechtes sein

Vergrößert eine solche Mechanik nicht die Verwirrung und damit die Spaltung der Gesellschaft? Lenkt das nicht von den eigentlichen Problemen ab? Lässt sich aus einer solchen Publizistik etwas lernen?

Ja, und klar. Und jein.

Dieser Beitrag stammt aus

taz FUTURZWEI N°12

Ich persönlich bin ein linker Leser. Als Leser im klassischen Sinne dient meine Lektüre nicht in erster Linie dazu, meine Überzeugungen zu festigen. Ich lese auch, um mich verwirren zu lassen. Das muss nichts Schlechtes sein, so ein Text als Wetzstein. Im Gegenteil.

Konservative Populärpublizistik beispielsweise geht so: »Nicht jede Verkäuferin zerfließt in Tränen, wenn sie vom Schicksal einer migrantisch bewegten Soziologiestudentin hört, deren größtes Problem im Leben es ist, dass sie öfter danach gefragt wird, woher sie denn stamme.« Das ist, auch abzüglich der polemischen Spitzen, ein anschlussfähiger Satz. Vielleicht nicht für die Minderheit der »migrantisch bewegten« Soziologiestudentinnen, aber für die Verkäuferin. Und ihren Chef.

Populärpublizistik verspricht oder verweigert Gemeinsamkeit

Was der vorgeblich Konservative schreibt, adressiert die wahren Verhältnisse und Probleme nur vorgeblich. »Interessengegensätze«, die sich dem »ökonomischen Blick« einer »marxistisch geschulten Linken« offenbaren, interessieren ihn nur insofern, als er sie gegen identitätspolitische Ansprüche ausspielen kann. Es soll auch »marxistisch geschulte« Linke geben, die dergleichen für Nebenwidersprüche halten.

Dieser Text macht auf. Er ruft dem Zweifelnden zu: Kommt her, ins »Team Fleischhauer«, wir haben ein Gemeinsames!

Linke Populärpublizistik hingegen liest sich so: »Es ist beachtlich, wenn Männer für den Erleuchtungsschritt, dass gerechtigkeitsmäßig noch nicht alles in Ordnung ist, erst Töchter bekommen müssen.« Das ist, wiederum abzüglich polemischer Spitzen, ein alles andere als einladender Satz. Er richtet sich an die Bekehrten mit der Warnung, späten Konvertiten nicht zu trauen.

Was die vorgeblich Progressive schreibt, adressiert ein berechtigtes Problem – um es zu konservieren. Wen allzu spät die »Erleuchtung« noch nicht ereilt hat, dass es »gerechtigkeitsmäßig« nicht zum Besten bestellt ist, der darf bei der Verbesserung auch nicht mitmachen. Es ist reiner Machiavelli: »Wer also die Möglichkeiten des Sieges verspielen will, der verwende Hilfstruppen; denn sie sind viel gefährlicher als Söldner.«

Dieser Text macht zu. Er ruft den möglichen Verbündeten zu: Geht weg, »Team Stokowski« hat keine Verwendung für euch, wir haben kein Gemeinsames!

»Starke Stimmen« führen in die Sackgasse

Nun führt das inkludierende »Gemeinsame« der Konservativen nirgendwo hin. Das Gemeinsame ergibt sich erstens nicht von selbst, es will hergestellt werden. Auch will, wer bewahrt, dass alles so bleibt, wie es ist.

Leider führt auch die Aufkündigung des »Gemeinsamen« nicht zum Ziel, weil es gar kein Ziel mehr gibt. Ein Gemeinsames wird gar nicht erst beschworen, sondern in eine unüberschaubare Multitude von Minoritäten und deren Partikularsorgen aufgelöst.

Möglicherweise führt der publizistische Zirkus der angeblich »starken Stimmen« in die Sackgasse. Jeder beruft sich auf die Vernunft, auf den »common sense« – und niemand hebt mehr den Kopf aus seinem Schützengraben. Nicht aus Angst vor dem Gegner. Sondern aus Sorge, unter »friendly fire« zu geraten.

So kommen wir nicht weiter. Wie dann?

Den Krieg beenden

Über das sogenannte »canned laughter« in US-Komödien schrieb Slavoj Žižek, es erlöse uns vom Zwang, über dumme Witze selbst lachen zu müssen. Es lacht schon der Fernseher für uns. Desgleichen ist das Wrestling bei aller Unterhaltsamkeit ein abgekartetes Spiel. Vielleicht mögen sich die einzelnen Wrestler wirklich nicht, ihr Schaukampf aber folgt eingefahrenen Mustern. Es führt zu nichts.

Vielleicht sollten wir uns entsprechend abwenden von den Spiegelfechtereien, den Nebelkerzen und den Nebenkriegsschauplätzen. Und aufhören, Meinungsritter für uns galoppieren zu lassen.

Dazu würde gehören, einfach aus dem Schützengraben zu steigen und, ganz für sich selbst, den Krieg für beendet zu erklären. Keine Scharmützel mehr, keine Schlachten. Es gibt größere Probleme als die Frage, wer den »common ground« besetzt und die meisten Gebietsgewinne verzeichnen kann. Es ginge darum, das Gebiet zu retten. Und den Blick für das tatsächlich Gemeinsame zu schärfen.

An allen Küsten, hört man, steigt die Flut. Geschrei in allen Lüften nützt uns da wenig.

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