: Kranke Hirnhäute ohne Absender
■ Rückrufaktion: In 62 Fällen wurde infektiöses Gewebe illegal verkauft. Lückenhafte Dokumentation
Berlin (taz) – Das Pharmaunternehmen Braun Melsungen AG hat eine weltweite Rückrufaktion für ihre Hirnhaut-Transplantate gestartet. Zu dem Schritt entschloß sich die hessische Firma, nachdem die Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit festgestellt hatte, daß städtische Krankenhäuser vor 1994 an das Unternehmen 62 Hirnhäute von PatientInnen mit ansteckenden Krankheiten geliefert hatten. Damit hat Braun Melsungen faktisch eingeräumt, daß ihre Implantate mangelhaft waren, weil medizinische Ausschlußkriterien nicht eingehalten wurden. Das hatte die Firma bislang abgestritten.
Welchen Sinn die Rückrufaktion, die für alle vor Januar 1996 hergestellten Produkte gilt, jetzt noch macht, ist fraglich. „Ein Großteil der ausgelieferten Präparate ist mittlerweile längst an Patienten verpflanzt worden“, so der Gesundheitsexperte der Berliner Bündnisgrünen Bernd Köppl, der den Skandal an die Öffentlichkeit gebracht hatte. Dies bestätigt indirekt auch Braun-Melsungen-Mitarbeiter Gerhard Meil: „In der Regel lagern die Krankenhäuser den Bedarf für zwei bis drei Monate.“ Die „freiwillige“ Rückrufaktion kam erst unter dem erheblichen Druck des hessischen Regierungspräsidiums zustande – „wir hätten dies sonst angeordnet“, hieß es.
Aus acht Berliner Kliniken waren zwischen 1989 und 1994 Hirnhäute illegal an das Pharmaunternehmen verkauft worden. Weder hätten die Krankenhäuser Hirnhäute zur kommerziellen Weiterverarbeitung abgeben dürfen, noch lagen Einverständniserklärungen der PatientInnen zur Obduktion vor. Am bedenklichsten: Geliefert wurde auch das Gewebe von Verstorbenen, die an ansteckenden Krankheiten gelitten hatten, darunter 26 Tuberkuloseerkrankungen, vier Hepatitisfälle und ein Aidsfall. Eine Übertragung dieser Krankheiten an die EmpfängerInnen des Gewebes ist zwar nach derzeitigen Kenntnissen ausgeschlossen, dennoch hätten die Hirnhäute keinesfalls verarbeitet werden dürfen. Außerdem läßt sich bei weiteren 1.700 Hirnhäuten, die ein Berliner Krankenhaus von 1989 bis 1994 an Braun Melsungen lieferte, nicht mehr rückverfolgen, von welchen PatientInnen das Gewebe stammt.
Nach Erkenntnissen des Regierungspräsidiums Kassel, der zuständigen Aufsichtsbehörde, hat die Firma entgegen der Vorschriften bis 1994 Lieferungen auch dann entgegengenommen, wenn keine schriftliche Bestätigung über die Einhaltung der Entnahmekriterien vorlag. „Wir haben außerdem große Lücken in der Dokumentation festgestellt“, sagte der hessische Regierungssprecher Manfred Merz. Wegen dieser Mängel hatte die Aufsichtsbehörde die Produktion von Ende November 1995 bis Mitte Januar 1996 gestoppt. Mit Braun Melsungen wurde ein neues Dokumentationsverfahren vereinbart, das eine zweifelsfreie Identifikation ermöglichen soll. Firmenintern wurde der Herstellungsleiter abgelöst.
Bernd Köppl wirft der Firma Fahrlässigkeit vor. Er spricht von „einer Kette von Verantwortungslosigkeit“ bei den pathologischen Abteilungen der Krankenhäuser und Braun Melsungen. Die Firma sieht sich dagegen von den Lieferanten getäuscht. „Wir haben in Treu und Glauben über Jahre Gewebe erhalten“, erklärt Prokurist Gerhard Meil. Daß sich darunter auch infektiöses Material befunden hätte, sei dem Unternehmen erst im April mitgeteilt worden. Bislang kann die Staatsanwaltschaft nicht ermitteln, weil die Berliner Senatsverwaltung keine Anzeige erstattet hat. Dorothee Winden
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