: Koslowskis Gitta plaudert vom Sofa...
Schallers Horst ist müde. Müde und traurig. So hat er sich das alles nicht vorgestellt, sagt er. Immer Stasi und Aids, früher war alles besser, jetzt nur noch Verrat und Gefahr überall. Neulich, sagt Schaller, hat er geträumt, er sei mit seinem Analytiker am Strand gewesen, wo er einem Wal ins Auge kucken wollte, aber der Analytiker hat ihn weggezogen. — Gott sei Dank, habe ich gemeint, jetzt sieht er wohl, daß das ein Mattkopf ist.
Aber die Wale sind ja auch nicht mehr, was sie für uns sein sollen. Dauernd legen die sich an olle Strände zum Sterben, begehen richtig Selbstmord. „...so steht es mit der Welt“, liest er mir in seiner Novembermelancholie aus Bingens Hildegard vor, „daß sie, im Sicherschöpfen ihrer Kräfte existierend, ihrem Untergang zuneigt, von vielen Drangsalen und Schlägen niedergedrückt“. Jetzt muß ich aber, entgegen meiner sonstigen Gelassenheit, auch mal losschreien: „Das nützt doch nichts“, schreie ich also, „das nützt doch gar nichts! Man muß sich auch genußvoll ins Chaos fallen lassen, muß die widersprüchlichen Meinungen über Biermann, Freddy Quinn und Mercury, Anderson, Kinski, Rathenow, Jugoslawien, Boris Becker, Honecker, Konsul Weyer, Fink...“ — „Ich kann nicht mehr“, jammert Schaller, „ich will das alles nicht mehr hören, will meine alte Sprache wieder haben, geflügelte Jahresendfiguren, Broiler und Grilletas, blaue FDJ-Dederon-Hemden, internationale Völkersolidarität... keine New-Age-Engel, die eigentlich Außerirdische sind, keine eingelegten Auberginen oder Lammnüßchen im Mangobett, kein „Ich bin ein Ausländer“-T-Shirt — ich will nach Hause!!!“
Jetzt werde auch ich traurig. „Du hast kein Zuhause mehr“, sage ich sanft, „wir haben alle kein Zuhause mehr. Das liegt daran, daß alles eins ist. Wenn so viele Menschen tatsächlich keine Bleibe mehr haben wie derzeit, wo alle ganz aufgeregt und euphorisch von der neuen Völkerwanderung sprechen, dann geht das doch nicht an uns vorbei — wir haben zwar noch unsere netten Neue-Heimat-Wohnungen, aber dafür irrt unsere Seele heimatlos über den Planeten, ist doch ganz klar. Dagegen hilft wahrscheinlich gar nichts oder vieles, vielleicht auch Hildegard von Bingen — zumindest bis Ende November“:
„Und wieder will ich über die Wolken fliegen, d.h. ich will über das vernünftige Maß hinausgehen und das beginnen, was ich nicht vollenden kann. Aber durch diesen Versuch rufe ich eine übergroße Traurigkeit in mir hervor, so daß ich weder auf dem Berge der Heiligkeit noch auf der Ebene des guten Willens etwas zustande bringe, sondern nur die Unruhe des Zweifels, der Hoffnungslosigkeit, der Trauer und gänzlicher Niedergeschlagenheit in mir fühle. Aber ich werde der gebrechlichen Erde nicht weichen, sondern männlich wider sie streiten.“
„So seid ihr im Westen“, schüttelt der unverstandene Schaller resigniert den Kopf, „kaum hat man sich an den ganzen Femo-Kack hier gewöhnt, soll man schon wieder männlich streiten.“
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