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Konzert-Performance in Hitzacker„Selbstvergessen den Klang erforschen“

Höhepunkt der Sommerlichen Musiktage Hitzacker ist „Myriad“, eine Spieldosen-Installation der Komponistin Rebecca Saunders. Nach der Eröffnungs darf jeder selbst drauf spielen.

Weiße Wand wird Klang: Rebecca Saunders mit Spieldosen Foto: Markus Palmer/SWR Classic

taz: Frau Saunders, warum haben Sie „Myriad“ ausgerechnet mit Spieldosen bestückt?

Rebecca Saunders: Einerseits, weil mich Spieldosen-Klänge schon lange interessieren und ich sie immer wieder in Kompositionen einbaue. Die Spieldosen-Wand, die – nach einer Station im Mai in Schwetzingen – mit Hitzacker zum zweiten Mal in Europa erklingt, habe ich mit Martin Rein-Cano und seinem Landschaftsarchitekturbüro Topotek 1 ursprünglich für die Architekturbiennale 2015 im chinesischen Shenzen erstellt. Eine Bedingung war, dass man sich auf die Industrie der Region bezog, daher die 2.464 Spieldosen.

Welche Melodien erklingen?

Ich habe Dosen mit 60 nicht urheberrechtlich geschützten Melodien aus aller Welt gewählt. Das reicht von Kindermelodien bis zu Puccini, Beethoven, Mozart, Haydn. Wir haben moderne chinesische und japanische Stücke, Nationalhymnen, das israelische „Hawa Nagila“ – alle möglichen Melodien, die für viele einen Bezug zur Kindheit, zur Vergangenheit, zum Heimatland herstellen.

Rebecca Saunders

49, hat bei Wolfgang Rihm und Nigel Osborne Komposition studiert. Sie ist seit 2011 Professorin für Komposition an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover.

Und wie wird das Konzert ablaufen?

Für die Vernissage-Performances werden die jungen Musiker der Festival-Akademie und ich uns drei Tage lang mit den Spieldosen-Klängen befassen. Wir werden sie mit Instrumenten nachahmen und Bezugspunkte suchen. Am Ende soll ein Stück stehen, in dem Spieldosen und Orchester zusammenwirken.

Danach darf das Publikum spielen.

Ja. Nach der Vernissage-Performance bleibt die Installation bis zum Ende der Musiktage stehen, sodass jeder die Dosen aufziehen und sein eigenes Stück spielen oder komponieren kann.

Das klingt sehr partizipativ.

So politisch sehe ich es gar nicht. Ich will einen Raum öffnen, in dem der Zuhörer der Musik begegnet. Wo er einen Bezug zum Klang entwickeln und diesen Moment des Zuhörens außerhalb der Realität mitgestalten kann. „Myriad“ birgt außerdem einen interessanten Widerspruch: Die Spieldosen sind aufgereiht auf einer brutalistisch weißen Wand. Die ist eigentlich überdimensioniert. Trotzdem fühlt man sich sofort hingezogen und hat Lust, das Ohr an die Spieldose zu legen und selbstvergessen den Klang zu erforschen. Jeder einzelne kann in voller Achtsamkeit die Klänge ausprobieren.

Ist auch die Unvollkommenheit Teil Ihres Konzepts?

Ja, und ein sehr wichtiger. Wenn man mit Ensembles arbeitet, merkt man, dass jedes Konzert anders klingt. Jede Aufführungssituation ist anders, jede Akustik, jeder Fehler. Es ist unmöglich, etwas perfekt zu spielen. Das wirft die Frage auf: Was ist ein Fehler?

Die Antwort?

Es ist ein Moment in der Zeit. Eine jedes Mal neue Situation. Ich finde es sehr schön, dass uns Musik diese Spontanität schenkt. Auf der anderen Seite untersuche ich unglaublich gern Klänge am Rand der Stille. Diesen Zwischenmoment zu untersuchen und auf ihn aufmerksam zu machen, finde ich spannend.

Wo verläuft die Grenze zwischen Stille und Geräusch?

Das auszuloten, ist etwas sehr Poetisches. Wenn ein Geiger langsam anfängt, den Bogen zu bewegen, ist das erst mal nur eine Geste. Irgendwann wächst ein Geräusch aus dem Nichts, wird zu einem konkreten Klang. Diese Schwelle zwischen dem Nichts und dem Klang fasziniert mich. Denn als Komponist erzeuge ich ja keine neuen Klänge. Ich nehme die vorhandenen, gebe ihnen einen Rahmen, filtere. Ich gebe dem Zuhörer die Möglichkeit zu bemerken, wie ein Klang gestaltet wird in Raum und Zeit.

Und was bedeutet Ihnen die Pause? Gleicht sie dem Weißraum eines Gemäldes oder einer Kalligrafie?

So könnte man es sagen. Wenn man Musik schreibt, denkt man unweigerlich irgendwann: Was ist dieses weiße Blatt, dieser weiße Raum vor mir? Was bedeutet dieses satte Nichts? Und man wird sich dessen bewusst, dass jede Note, die man auf dieses Blatt schreibt, perfekt sein sollte, damit dieses Nichts sein Gleichgewicht behält. Dieser Gedanke hat mir sehr geholfen, als ich jünger war: mir vorzustellen, dass diese Stille perfekt ist, und du setzt da einen Klang hinein. Der irgendwann zu einer Reihe von Klangereignissen wird.

Wie Bilder in einem White Cube?

Ich würde noch einen Schritt weitergehen: Ein Musikstück funktioniert nicht wie ein zweidimensionales Ereignis, wo ein Bild auf das andere folgt. Klang­ereignisse sind eher wie Skulpturen, die sich einen gemeinsamen Raum teilen.

Musik wäre also dreidimensional.

Ja, und das stimmt ja auch physikalisch. Musik besteht aus Klangwellen. Es gibt den kurzen Augenblick, in dem sich der Klang durch den Raum bewegt, und dann ist die Welle vorbei. Zuhören bedeutet eine aktive Teilnahme an diesem physikalischen Phänomen.

Sie haben mal gesagt: An der Musik meines Lehrers Wolfgang Rihm fesselt mich, dass sie nicht melodiös ist, sondern statisch. Warum?

Als ich Ende der 1980er-Jahre erstmals Rihms Musik hörte, war das für mich sehr befreiend. Ich war Anfang 20, studierte in Edinburgh und hatte noch nie ein Live-Stück gehört, das ohne Melodie auskam. Es war für mich eine sehr wichtige Erfahrung, eine Musik von solcher Schönheit und Ausgewogenheit zu hören, wo der Klang in der Stille und im Echo zu hören war. Das ist eine Musik voller Farbe, voller dynamischer Klangobjekte. Ich fand sie ex­trem expressiv, obwohl nicht der Hauch einer Melodie erklang. Das hat mir den Mut gegeben, meinen Weg weiterzugehen.

Sie haben einige Stücke nach Farben benannt – Purpur, Rot. Ist Musik für Sie Synästhesie?

Nein – obwohl ich Klänge oft mit Farben assoziiere. Eigentlich habe ich die Farb-Metapher entwickelt, als ich anfing, über meine Musik zu sprechen. Farben werden genauso subjektiv wahrgenommen wie Klänge und sind genauso flüchtig. Außerdem habe ich mich lange mit der Symbolik von Farben in der Kunst befasst. Welche Wirkung hat Zinnoberrot in der Malerei, welche kulturhistorische und emotionale Bedeutung transportiert es?

Welche denn?

Dieses Zinnoberrot – ähnlich dem Coca-Cola-Rot – ist die erste Farbe, die das Baby wahrnimmt. Und im Sterben sehen wir als Letztes ebenfalls Rot. Rot hat etwas Dringliches und kann eine unglaubliche Energie in sich tragen. Blau assoziiere ich eher mit Ruhe und Zeitlosigkeit. Man kann einer Farbe ganze akustische Landschaften zuordnen, und einige meiner früheren Farben-Stücke können als eine Art emotionaler Zustand gehört werden.

Und was bedeuten Ihnen Alltagsgeräusche?

Viel. Ich liebe es, die Deutsche Bahn zu hören, den Grundton der Wagen festzulegen und die Obertonreihe, wenn sie beschleunigen. Oder wenn hier renoviert wird und die Backsteine – bing, bing, bing – in die Straße geklopft werden: Die großstädtischen Klänge sind wunderbar! Ich würde niemals auf dem Land leben wollen.

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