Kontrafaktische Phantasie: Irren istkreativ
Hamburger Kunsträume
von Hajo Schiff
Kannitverstan ist der Name dessen, dem anscheinend alles Gute und Schöne in Amsterdam gehört – das meint jedenfalls der wenig sprachverständig Fragende. Und leider gilt auch der vorbeikommende Leichenzug jenem bedauernswerten, seltsamen Herren. Diese heute kaum mehr verständliche alte Geschichte von Johann Peter Hebel spielt mit der Kraft kontrafaktischer Phantasie.
Die hat in Kunst und Leben schon manches bewirkt: Die Erfindung der italienischen Oper geht ebenso auf ein Missverständnis zurück wie der Fall der deutschen Mauer. Hatte einst der Sprech-Chor der wiederentdeckten griechischen Tragödie die Kreativität beflügelt, war es 1989 vernuschelte Ratlosigkeit. Warum wollen alle immer restlose Klarheit?
Speziell Kunst lebt von Mehrdeutigkeiten und subjektiven, auch „falschen“ Interpretationen. Es gibt sogar Religionen, die auf einem Set irrtümlicher Annahmen beruhen. Wenn das nicht sogar für alle zutrifft, so besonders für die karibischen Kulte der Santeria und des Palo Mayombe: Die Sklaven hatten ihre afrikanische Religion gezwungenermaßen fast vergessen und den neuen Katholizismus nicht hinreichend erklärt bekommen.
So bauten sie ein komplexes neues Glaubenssystem mit außerordentlich raffinierten Doppelbödigkeiten auf: Da kann, wie zurzeit im Museum für Völkerkunde zu sehen ist, ein afrikanisches Geistwesen von einer christlichen Statue symbolisiert werden oder auch mit einem feuchten Stein in einer perlenkettengeschmückten Porzellan-Suppenschüssel.
So etwas hat viel mehr mit Kunst zu tun, als Ethnologen und Kunst-Puristen glauben. Vielleicht sollte man solche Übertragungsprozesse und Deutungsfreiheiten auch bei den neuen kultur- und institutionskritischen Ausstellungen im Kunstverein anwenden oder bei der ersten großen Werkschau der Filme des Documenta-erprobten Clemens von Wedemeyer in der Kunsthalle, die Doppelbödigkeiten von speziellen Orten thematisiert.
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