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KommentarVerhandlungsmasse der Eliten

Kommentar von Jan-Werner Müller

Die Demokratisierung der EU ist gescheitert. Aber auch die Notlösung funktioniert nicht, dass die Regierungschefs miteinander kungeln. Dafür gibt es zu viele Populisten.

D ie Verfassung ist tot, lang lebe ihre Substanz - dies scheint das Ergebnis des Brüsseler EU-Gipfels zu sein. Die Regierungschefs haben die wichtigsten Bestimmungen aus der EU-Verfassung gerettet, aber allen symbolischen Ballast abgeworfen: Statt von Verfassung redet man nun über einen Reformvertrag. Von Hymne, Flagge und anderen Staatlichkeiten suggerierenden Schmuckstücken wird Abstand genommen. Angela Merkel hat einmal mehr die experimentelle Machtphysik eines Gipfels meisterlich beherrscht, auch wenn es diesmal nicht immer nach Feinmechanik aussah, sondern mit der Brechstange gedroht wurde. Und doch wäre es ein Fehler, sich nun allerseits zum erfolgreich geebneten Weg gen "Minivertrag" zu gratulieren und zur Tagesordnung überzugehen. Die Erfahrungen mit der Verfassung sowie der Gipfel des vergangenen Wochenendes werfen die Frage auf, was eine EU mit 27 oder mehr Mitgliedstaaten eigentlich sein will oder überhaupt noch sein kann?

Was man nun nach zähen Verhandlungen und Jahren des Stillstands erreicht hat, wäre wohl ähnlich auch schon 2001 oder 2002 zu haben gewesen. Damals jedoch wählten die EU-Regierungschefs bekanntlich nicht den Weg einer normalen Regierungskonferenz, sondern beriefen bedeutungsschwer einen "Europäischen Konvent" ein. Erklärtes Ziel war, die EU mittels einer "Verfassung" den Bürgern "näher zu bringen", wobei der Unterschied zwischen Verfassung und Verfassungsvertrag bewusst verwischt wurde. Gerade von der symbolisch aufgeladenen Verfassungsrhetorik versprach man sich Legitimitätsgewinne. Dabei spielten bewusst oder unbewusst Analogien mit der westdeutschen Geschichte nach 1945 eine Rolle: Das Modell hieß "Integration durch Verfassung". Es kursierte die Wunschvorstellung, eine anständige europäische Verfassung würde früher oder später auch europäischen Verfassungspatriotismus in den Köpfen und Herzen der Bürger verankern.

Verglichen mit dem Binnenmarkt und der Euro-Einführung war der Vertrag relativ bescheiden - ihn als "Verfassung" zu verkaufen, war von vornherein eine Mogelpackung. Aber es ist eine weitere rhetorische Mogelpackung, heute so zu tun, als hätten Franzosen und Niederländer die Verfassung abgelehnt, weil sie das Schreckgespenst eines europäischen Superstaates heraufbeschwor. "Non" und "Nee" galten nicht der Flagge mit den gelben Sternen oder Beethovens Neunter: Viele Neinsager hatten die Sorge, Europa könnte zu neoliberal geraten. Sie wollten eine sozialere Union - was bedeutet hätte, die EU mit mehr Gestaltungsmacht auszustatten. Manch andere wiederum wünschten sich einfach nur mehr Mitspracherechte und das Gefühl, die europäischen Eliten würden nicht alles allein über die Köpfe der Bürger hinweg entscheiden.

Solche Befürchtungen wurden durch die vergangenen zwei Jahre und nun das Gipfel-Theater verstärkt. Angeblich wollte man in einer "Reflexionsphase" den Bürgern zuhören, doch diese Episode sieht im Rückblick nach einem weiteren, eher absurden Schauspiel aus: dem Stück "Warten auf Sarkozy." Es ist bezeichnend, dass Merkel in ihrer Abschlusserklärung die Reflexionsphase in einem Atemzug mit Erstarrung und Stillstand nannte.

Aus demokratietheoretischer Perspektive wiederum ist es zumindest auf den ersten Blick merkwürdig, dass die französische und die niederländische Regierung nun der "Substanz" von Regeln zustimmen, welche das französische und das niederländische Volk mehrheitlich abgelehnt hatten. Umgekehrt blockierten Polen und Großbritannien Regeln, denen sie vor Jahren noch zugestimmt hatten. Ein solches Vorgehen lässt sich nur rechtfertigen, wenn man die Volksbefragungen von 2005 als ein unglückliches Abweichen von erprobten EU-Wegen sieht - weil dieses demokratische Experiment nicht mehr Legitimität erzeugt hat, sondern stattdessen in einer institutionellen Sackgasse gemündet ist. Deutlicher gesagt: Wer das Ergebnis des Gipfels gutheißt, sollte auch eingestehen, dass die EU auf absehbare Zeit mit Demokratie im landläufig verstandenen Sinne nicht viel zu tun hat. Die Union ist Verhandlungssache von Eliten hinter verschlossenen Türen, auf und vor Beichtstühlen.

Eine solche Haltung entspricht jenen politischen Philosophen, die die europäischen Staatsvölker nicht als "Autoren", sondern allenfalls als "Redakteure" der politischen Entscheidungen ansehen. Sie können Beschlüsse nur anfechten und unter Umständen redigieren. Dieser Vision entspricht auch eine gestärkte Rolle der nationalen Parlamente, wie sie der Reformvertrag wohl enthalten wird. Auch sie können Entscheidungen überprüfen lassen, anfechten und aufhalten - aber mehr nicht.

Die Rechtfertigung der EU als elitärer Veranstaltung ist bekanntlich, dass man hinter verschlossenen Türen auch vernünftige Zugeständnisse machen kann und nicht direkt dem Druck von Partikularinteressen oder gar der Straße ausgesetzt ist. Der jüngste Gipfel lässt diese Grundannahmen jedoch zweifelhaft erscheinen. Es wäre naiv oder bewusste Geschichtsklitterung, zu behaupten, zähes Ringen um nationale Interessen sei etwas ganz Neues - ein de Gaulle, ein Aznar oder gar eine Frau Thatcher waren keine weichen Verhandlungspartner. Neu aber ist die völlige Schamlosigkeit, mit der nun nicht nur in Großbritannien jegliche Vorstellung eines gemeinsamen guten europäischen Willens mit Füßen getreten wird, um kurzfristige Popularitätsgewinne beim heimischen Publikum zu erzielen. Es existierte früher zumindest die Fassade einer europäischen Konsens- und Kompromisskultur. Diese Rhetorik entwickelte dann wiederum ihre eigene Dynamik und Scham-Mechanismen, sodass man zumindest nicht als offensichtlicher Spielverderber gesehen werden wollte. In der EU der 27 hingegen besteht offenbar jeder Anreiz zum Spielverderben. Wer einfach immer nur mitspielt, muss sich früher oder später als der Dumme vorkommen.

Es ist sicher richtig, dass die EU nun auf kurze und auch auf lange Sicht mehr Handlungsfähigkeit erhält: Durch den "Hohen Repräsentanten" in der Außenpolitik und durch die Entscheidungsfindung per doppelte Mehrheit ab 2017 - allerdings erst fünfzehn Jahre nach dem Verfassungskonvent! Doch die nun allerseits beschworene "Handlungsfähigkeit" ist nur eine Formalie, solange es noch nicht einmal den Ansatz europaweit geteilter Vorstellungen davon gibt, was richtiges politisches Handeln zu Beginn des 21. Jahrhunderts überhaupt sein soll. 2017 werden zwei weitere Amtszeiten eines amerikanischen Präsidenten (oder einer amerikanischen Präsidentin) vorüber sein. China, Indien und wohl auch Russland werden ihren Aufstieg zu Weltmächten auf mehr oder weniger aggressive Weise fortgesetzt haben. Wenn Europa bis dann nicht längst seine kleinliche, provinzielle, ja eurozentrische Zerstrittenheit überwindet, wird auch der vermeintliche Erfolg des Jahres 2007 in keinem sehr günstigen Licht mehr erscheinen.

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