■ Kommentar: Rote Herzen
Im November 1995, sechs Jahre nach der Wende, bricht sich ein lange verschüttetes Urbedürfnis Bahn: Weg mit dem leidigen Modernisierungsgequatsche und den kriminellen Schlankmachern für Staat und Wirtschaft – endlich wieder mit gutem Gewissen links sein, lautet die Parole.
Ob Bürgermeister Henning Voscherau heimlich bedauert, daß kaum einer der 4 738 Hamburger Einkommensmillionäre Steuern zahle, ob an der HWP einige hundert Altlinke zwei Tage lang den Reichen nachpalavern, die ÖTV über neue soziale Arbeitszeitmodelle nachdenkt oder Hamburgs IG Metall-Chef Klaus Mehrens soziale Utopien einklagt – die Trauerzeit über den Untergang des real existierenden Sozialismus scheint sich dem Ende zuzuneigen.
Das Saar-Rotlicht Oskar Lafontaine hat in Mannheim diese Sehnsucht nach roter Identität geschickt für seine Karriere ausgenutzt; ein Weg, den Zauderer Voscherau sich freilich noch nicht zu gehen traut, müßte er doch dann die Macht mit den ungeliebten Grünen teilen.
Die neue linke Gefühligkeit kann die gefährliche Konzeptlosigkeit der meisten roten Herzen jedoch kaum überdecken: So leistete beispielsweise der sozialpolitische Ratschlag in der HWP zwar beachtliche Analysearbeit, kam aber beim Vorschlag für Reformen über altbackene Leerformeln über Gegenmacht, Umverteilung und die Segnungen eines finanziell fett gepolsterten Staatsapparates kaum hinaus.
Daß es auch anders geht, bewies die ÖTV: Ihre Debatte über neue Arbeitszeitmodelle und das Konzept „Zeit der Stadt“ zeigt Wege auf, wie rotes Herz, moderner Verstand und kreativer Realismus die Verhältnisse ändern können, statt sie nur zu bejammern. Mehr davon!
Florian Marten
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