■ Kommentar: Doppelter Mißbrauch
Die öffentlichen Vorwürfe, die in dieser Woche in einer Fernsehsendung gegen einen GAL-Referenten erhoben wurden, haben eine ungute Eigendynamik entwickelt. Da mühen sich SAT1-Journalisten, dem GALier doch etwas nachweisen zu können, um den eigenen ach so wichtigen Ruf der Seriosität nicht zu gefährden. Die ominöse „sichere Quelle“ wird nicht genannt, die Karten liegen nicht auf dem Tisch. Statt dessen tritt die „Einspruch“-Redaktion die Flucht nach vorn an.
Unterstützt von einem Mann, der weitere „Zeugen“ anschleppt und mit seinem Damokles-Schwert der Mißbrauchs-Bezichtigung die gesamte Sozialarbeiter-Szene am Hauptbahnhof lahmlegt. Männer und auch Frauen, die große Angst haben, die nächsten zu sein, denn wenn ein Name genannt wird, bleibt immer etwas hängen.
Doch die berechtigte Empörung über das Vorgehen des TV-Senders verhindert eine inhaltliche Überlegung. Losgelöst von Personen und deren Glaubwürdigkeit müssen wir uns fragen: Soll da nicht einer fertig gemacht werden mit einem Vorwurf, mit dem man jemanden eigentlich gar nicht fertig machen können sollte? Ist es wirklich so igitt, wenn einer erstens schwul und zweitens Freier ist? Daß heterosexuelle wie homosexuelle Menschen die Dienste von Prostituierten in Anspruch nehmen, ist gesellschaftliche Realität. Käufliche Liebe ist bei „Linken“ ein Tabu, aber es gibt sie. Das Thema Strichjungen ist gleich von einem ganzen Tabuknäuel verhangen.
Das Problem ist, sorgfältig zu differenzieren zwischen Kindesmißbrauch, Mißbrauch von Abhängigen, „freiwilliger“ oder unfreiwilliger Prostitution von Jugendlichen - und der Forderung nach selbstbestimmter Sexualität auch für Jugendliche. Im Zuge der Aufklärung über den sexuellen Kindesmißbrauch ist eine Prüderie ausgebrochen, die jegliche Sexualität zwischen unter 18jährigen und Erwachsenen in die Nähe eines Verbrechens stellt. Mißbrauchsvorwürfe werden hier von Erwachsenen für ihre Konflikte mißbraucht; die Probleme der Jugendlichen sind zweitrangig.
Hanne Hartwig
Siehe Bericht Seite 32.
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