■ Kommentar: Dialektik der Kälte
Die Frage, ob Kälte ein dialektischer Faktor ist, führt auf ein zugiges Feld. Zweifellos aber können klamme Finger durchaus unterstützend wirken, sich die Geschichte des deutschen Zusammenwachsens erneut als eine der Lügen zu gegenwärtigen. Wer im kalten Haus sitzt, mit aufgerissenen Dächern, zugigen Fenstern und eingefrorenen Rohren, wird sich mit besonderer Wärme der Verheißung erinnern, der Kapitalismus werde es schon richten. Entsinnen wird man sich auch mit kühlem Zorn an die Behauptung der Westler, die Menschen in der DDR hätten nur passiv gewartet, bis die Obrigkeit alles richtete.
Mancher Mieter der 44.000 Wohnungen, die die Wohnungsbaugesellschaften jetzt an die Alteigentümer übergaben, würden diese Fürsorglichkeit von oben jedenfalls gern einfordern. Statt dessen sind sie wieder da, wo sie mal waren: sie müssen selber dafür sorgen, daß ihr Haus halbwegs über den Winter kommt, müssen selbst Arbeit und Geld hineinstecken, weil sich die Eigentümer nicht kümmern oder nicht einmal bekannt sind. Mieter haben auch in der Vergangenheit dafür gesorgt, daß Ruinen bewohnbar gemacht wurden und Bausubstanz erhalten blieb; ob in Einfamilienhäusern oder Mietskasernen. Mieter, bei denen nun der Wind durchs kalte Treppenhaus streicht, werden Opfer eines zentralen Mangels des Einigungsvertrags. Durch die Rückgabepflicht wurde in ungezählten Fällen eine langjährige Erhaltungsleistung mit kaltem Entzug belohnt. Eine Wahl haben die Mieter angesichts des Frostes nicht. Ihnen wird erneut Eigeninitiative abgefordert, für die sich ein Hausbesitzer möglicherweise bald mit einem Fußtritt bedankt. Eigentum verpflichtet eben meist nur die Nutzer, nicht den Eigentümer. Mancher Mieter, mit heißem Herzen in kalter Bude sitzend, wird sich ärgern und die Vorteile der Neubau-Platte rühmen: wo Platte ist, da jedenfalls droht kein Alteigentümer. Gerd Nowakowski
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