■ Kommentar: Geschichtsnarkose
Die derzeitige Debatte um den Wiederaufbau des Stadtschlosses gleicht einer Groteske: Das Objekt der Begierde fehlt. Den ungeliebten sozialistischen Palazzo möchten die Protagonisten der Rekonstruktion besser heute als morgen wegsprengen. Wie zu Kaisers Zeiten soll dann die Mitte wieder von dem raumbildenden Schloßbau mit Fassaden und Türmchen, Portalen und Kuppeln bestimmt werden. Ein Denkmal als Produkt des Zeitgeschmacks?
Nun existiert der 1950 zertrümmerte Schloßbau aber nur noch auf vergilbten Bildern. Und weil man die wiederbeleben möchte, wird die Sache so fatal, wird doch nicht mehr über Städtebau und Architektur, Inhalt und Form, Nutzung und Funktion nachgedacht, sondern allein über das ästhetische Erleben des Kolosses – wir leben schließlich in einer Medienwelt. Jeder vergleichende geschichtliche Maßstab – außer den der nostalgisch gefärbten Sehnsucht – wird unwichtig. Es reicht das getäuschte Abbild für das rückwärtsgewandte Gefühl: ein Narkotikum gegen die eigene Geschichte und Zukunft. Der Täuschungseffekt erinnerte nicht nur an schlechte, lächerliche Kulissenwelten. Schlimmer noch: Das Erinnerungsstück machte mit allem Anspruch auf Planung und Architektur ein Ende. Der Kontrast zwischen unserer Zeit und dem kopierten Schloß überführte uns des postmodernen Spiels, das vorgibt, verschwundene Steine wieder zusammenfügen zu können. Gerade die bauliche Zerrissenheit des Terrains und seine ungeschönte Diskontinuität lassen dort die Hinfälligkeit der Stadt erfahrbar werden. Die schönende Denkmalpflege stellte das auf den Kopf. Rolf Lautenschläger
Siehe Bericht auf Seite 20
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