■ Kommentar: Amerikanische Verhältnisse
Was der Senat unter Politik versteht, hat er erst am Freitag wieder im Ausschuß Berlin 2000 unter Beweis gestellt. Es ging einmal mehr um die 27 Millionen Mark teure Möblierung der Straße Unter den Linden. Soll das Reiterstandbild des Alten Fritz nun weiter westwärts versetzt werden? Oder braucht man dort, an der Ecke Universitätsstraße, weiterhin eine Autodurchfahrt? Fragen, die die Stadt bewegen ...
Vergleicht man die Probleme der Großen Koalition mit den Bevölkerungsprognosen und Segregationsbeobachtungen der Stadtforscher, so stellt sich die Frage nach der Wahrnehmung der Stadt. Geht es nur noch um das Stadtbild, oder geht es um die soziale und wirtschaftliche Realität? Die Prognosen jedenfalls sind düster. Je mehr sich die Aufmerksamkeit der Politiker auf die „Wunschberliner“ richtet, die man mittels Stadtbildpflege, Imagewerbung und Standortpolitik an die Spree holen möchte, desto ungebremster verläuft die Konfliktdynamik vor allem in den Westberliner Innenstadtbezirken. Noch scheinen die Bilder aus den amerikanischen Ghettos weit entfernt. Doch steigende Fluktuation, die Auflösung sozialer Bindungen und Milieus, die ökonomische Daumenschraube, die vielerorts den Preis für das Bleiben in den vertrauten Quartieren darstellt, werden den sozialen und wirtschaftlichen Alltag in vielen Quartieren nachhaltig verändern. Aus dem Mit- oder Nebeneinander wird ein Kampf ums Überleben, aus Nachbarn werden Konkurrenten. Der Neuköllner Jugendhilfebericht gibt da nur einen Vorgeschmack. Mit Reiterstandbildern und Stadtbildpflege freilich wird man eine solche Entwicklung nicht beheben können. Daß man eine „Amerikanisierung“ der sozialen Verhältnisse tatsächlich verhindern möchte, ist ohnehin zu bezweifeln. Das ungeteilte Interesse am New Yorker „Modell“ der Kriminalitätsbekämpfung läßt nichts Gutes ahnen. Uwe Rada
Bericht Seite 19
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