Kommentar: Fehlender Schwung
■ Niemand glaubt, daß mit der Wahl die Weichen neu gestellt werden
Da mag die CDU noch so beschwörend von einer Richtungswahl oder gar von einer Schicksalswahl sprechen, da können die Grünen den Urnengang zur endgültig letzten Chance für das historische Projekt eines rot-grünen Bündnisses erklären: so recht in Schwung kommt der Wahlkampf dennoch nicht. Weder die Bevölkerung noch allzu viele Politiker scheinen daran zu glauben, daß am 27. September die Weichen grundlegend neu gestellt werden. Zu Recht. Das Ergebnis der Wahl wird ein vorläufiges sein, wie immer es ausfällt.
Die meisten Wähler erwarten Umfragen zufolge die Bildung einer Großen Koalition. Ein solches Bündnis ist niemals auf Dauer angelegt. Es verurteilt die Opposition zur Bedeutungslosigkeit und hindert die großen Parteien daran, sich gegeneinander zu profilieren. Eine Große Koalition mag einige konkrete Vorhaben durchsetzen wie etwa eine Steuerreform. Ist das geschehen, liegt ein Bruch des Bündnisses und nicht etwa seine Fortsetzung im allseitigen Interesse.
Und Rot-Grün? Zahlreiche Anhänger und auch Gegner dieser Koalition halten es für wenig wahrscheinlich, daß es deren Führungsspitze schon in einem ersten Versuch vier lange Jahre hindurch gelingen kann, allen Stolpersteinen auszuweichen. Wie würde wohl die grüne Basis reagieren, wenn eine solche Bundesregierung vorab über einen Raketenangriff der USA informiert worden wäre? Na also. Die erste rot- grüne Koalition auf Landesebene hatte keinen Bestand. Auch im Bund wird es für ein dauerhaftes Bündnis zunächst schmerzlicher Erfahrungen bedürfen, aus denen gelernt werden kann.
Bleibt als Möglichkeit noch die Bestätigung der bisherigen Regierung. Die wünschenswerte Dauer der Amtszeit von Helmut Kohl ist schon lange in Bonn eines der beliebtesten Themen, und die FDP streitet darüber gerade mal wieder öffentlich. Während einige in ihren Reihen als Garanten eines Kanzlerwechsels gewählt werden möchten, wollen gleichzeitig alle als Garanten für die Fortsetzung der bisherigen Politik gelten. Das ist der Versuch einer Quadratur des Kreises.
Das Angebot, die Katze im Sack zu kaufen, ist ein unsicheres Geschäft. Eine Jahrtausendentscheidung ist es nicht. Schicksalhaft ist die Bundestagswahl allenfalls für Helmut Kohl und Gerhard Schröder. Das reicht nicht, um im Wahlkampf Spannung aufkommen zu lassen.
Bettina Gaus Bericht Seite 6
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