Kommentar: Abschied von gestern
■ Deutschland ist endgültig in der Ära nach 1989 angekommen
Diese Wahl hat eine klare Botschaft. Die Bundesdeutschen, traditionell konservative Wähler, die noch nie eine amtierende Regierung abgewählt haben, wollen einen Wechsel. Das Ergebnis zeigt, daß die Bundesdeutschen endgültig in der Ära nach 1989 angekommen sind. Der Antikommunismus, die Wunderwaffe der Konservativen, funktioniert nicht mehr.
Kohl verabschiedet sich von der politischen Bühne mit einem für die Union katastrophalen Ergebnis: gut fünf Prozent weniger als die SPD. Warum? Der Union fehlte im Wahlkampf ein zentrales Thema. Der obligatorische Griff in die Mottenkiste erwies sich diesmal als Mißgriff. 1994 nutzte der Union ihre Rote-Socken-Kampagne. Diesmal nicht mehr. Die routinierte Beschwörung der rot-grünen Gefahr stammt zu offensichtlich aus einer Zeit, als die Welt noch in übersichtliche Blöcke, in Gut und Böse aufteilbar war. Kohls Bürgerblock, der die Gesellschaft vor öko-sozialistischen Experimenten schützt und einzig außenpolitische Stabilität gewähren kann, wurde von den Wählern als das verstanden, was er ist: als der Versuch, die Welt in den Koordinaten von gestern zu buchstabieren. Die Wähler interessierten sich mehr für die von morgen.
In gewisser Weise ist Kohl an der einzigen politischen Idee gescheitert, die er je hatte: Europa. Vor zwei Jahren hoffte man in der Union, daß man Kohl 1998 als Helden des Euro, als willensstarken Staatsmann würde inszenieren können. Nichts davon. Die Deutschen haben sich widerwillig mit dem Euro abgefunden. Das Thema war nicht wahlkampftauglich. Dies ist die Strafe dafür, daß Kohl Europa nur als ein finanztechnokratisches Problem verkaufte. Unter seiner Führung schrumpfte Europa auf die Frage Drei Komma null oder Drei Komma eins. Eine paradoxe Situation: Kohl verliert, weil er sein einziges originäres politisches Projekt nicht politisch begründen wollte.
Die SPD hat, wahltaktisch, alles richtig gemacht. Sie hat ihren populärsten Politiker zum Kandidaten gekürt und den Richtungswahlkampf ins Leere laufen lassen. Sie hat sich auf nichts festgelegt: weder auf eine Koalition noch auf ein Programm. Die SPD hoffte, daß sie die Kohl-muß- weg-Stimmung ins Kanzleramt tragen würde, wenn sie nur keinen Fehler machen würde. Ihre Analyse, daß man in dem entpolitisierten Kohl-Deutschland nur mit einem unpolitischen Wahlkampf gewinnt, war richtig. Stefan Reinecke
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