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Kommentar zum 22. Juni 1941Kein Erinnern, keine Scham

Kommentar von Klaus Hillenbrand

Der Übefall Nazideutschlands auf die Sowjetunion vor 70 Jahren sollte ein ein Datum des kollektiven Erinnerns sein. Bis heute wurde er jedoch verdrängt.

D aran, woran wir uns erinnern und welche Ereignisse ausgeblendet werden, misst sich, welche Bedeutung bestimmte Ereignisse für die Identität eines Kollektivs besitzen. Manche Erinnerungen verblassen: Die Schlacht bei Tannenberg, bei der die Deutschen im Ersten Weltkrieg die russischen Truppen besiegten, war unseren Urgroßeltern noch Grund gemeinsamen Gedenkens. Sie ist längst aus dem Gedächtnis verschwunden, und das ist auch gut so.

Der Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion vor 70 Jahren verdiente es, ein prägendes Datum des kollektiven Erinnerns zu sein. Er war nicht nur der Beginn eines Angriffskriegs, sondern Auftakt zu einem Massenmord. Fast 30 Millionen Menschen starben bis 1945. 3 Millionen gefangener Rotarmisten ließen die Deutschen bewusst verhungern, 2,4 Millionen Juden wurden planmäßig getötet. 15 Millionen sowjetische Zivilisten kamen ums Leben. Mord war wesentlicher Teil der Kriegsplanung.

Die Erinnerung an diesen deutschen Kreuzzug ist anders als bei Tannenberg nicht einfach verblasst. Des 22. Juni 1941 ist niemals angemessen gedacht worden, und dies, obwohl Millionen deutscher Soldaten alle Einzelheiten des Verbrechens zurück nach Hause trugen.

Doch die Bundesrepublik übernahm das Feindbild vom bösen Bolschewisten, und in der DDR bewirkten all die offiziellen deutsch-sowjetischen Verbrüderungen eher das Gegenteil. Weil die Sowjetunion wahlweise Feind oder Besatzer blieb, weil auch Stalin ein Massenmörder war, weil die Rotarmisten auch deutsche Frauen vergewaltigten: Deshalb blieb diese Geschichte liegen. Schuld und Scham passten nicht in die politische Landschaft.

Bild: taz

KLAUS HILLENBRAND ist Chef vom Dienst der taz.

Mit der deutschen Einheit vor 20 Jahren hätte die Chance bestanden, eine angemessene Erinnerungskultur zu initiieren. Sie blieb ungenutzt; und während wir heute glücklicherweise auf längst alltägliche deutsch-polnische Freundschaften blicken können, ist Ähnliches zu Russland nahezu unbekannt.

Mit dem Tod der letzten Überlebenden, so ist zu befürchten, wird das Verdrängen des Massenmords von dauerhaftem Erfolg gekrönt sein - auch wenn heute das Rias Jugendorchester in Berlin zum Gedenken Dmitri Schostakowitschs "Leningrader Sinfonie" spielt: Der Komponist schrieb sie 1941 in der belagerten Stadt unter deutschem Granatenbeschuss.

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taz-Autor
Jahrgang 1957, ist Mitarbeiter der taz und Buchautor. Seine Themenschwerpunkte sind Zeitgeschichte und der Nahe Osten. Hillenbrand ist Autor mehrerer Bücher zur NS-Geschichte und Judenverfolgung. Zuletzt erschien von ihm: "Die geschützte Insel. Das jüdische Auerbach'sche Waisenhaus in Berlin", Hentrich & Hentrich 2024

14 Kommentare

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  • TS
    Thomas Sch.

    Lieber Pedro Yudex,

    der Gedanke, daß man sich deshalb für das vergangene Schlechte schämen sollte, weil man ja ebenso auf das vergangene Gute stolz ist, scheint auf den ersten Blick einleuchtend, hält aber der näheren Betrachtung nicht stand: Wo steht geschrieben, daß das Eine nur mit dem Anderen zusammen zu betrachten ist ? Ist es nicht so, daß beispielsweise die Briten einerseits stolz sein können auf ihre altehrwürdigen Traditionen, die der Weltgemeinschaft ein Beispiel gegeben haben für „good manners“ oder „fair play“ aber andererseits sich Ihrer Meinung gleichzeitig dafür schämen sollten, was es an Grausamkeiten in ihrer Kolonialgeschichte gegeben hat einschließlich der Erfindung der KZs ? Ist es wirklich so, daß man das nur gleichzeitig zusammen betrachten soll ? Ich glaube das nicht, lieber Pedro. Macht es das Leben von irgendjemandem besser, sich ständig vergangener Verfehlungen zu erinnern ? Verantwortung ja, Schuld nein. Und achten Sie mal drauf: In den meisten der dazu erscheinenden Artikel wird nicht von natürlicher Verantwortung gesprochen, sondern versucht, das schamvolle Leiden an Fürchterlichem künstlich wachzuhalten. Und das, das ist verkehrt. Selbstverständlich weiß ich, was Hitler und seine Schergen gemacht haben, aber werden deshalb Goethes oder Schillers Werke besser oder schlechter ? Nein. Hier wird ganz offensichtlich versucht, eine Art Schuldbewußtsein hervorzubringen. Und man versucht ganz clever, dem Publikum vorzumachen, daß ohne Schuldbewußtsein ganz automatisch wieder eine hitlerische Gefahr drohen würde. Das ist aber erkennbar Unsinn. Wieso sollten gute Dinge nur mit Schuldbewußtsein zu bewerkstelligen sein ? An welchem Schuldbweßutsein sollten denn beispielsweise Carl Benz oder Herr Diesel gelitten haben, um ihre Erfindungen hervorzubringen ? Das ist erkennbar absurd. Nun, uns einzureden, wie wären auch im Nachgang schuldig (und nicht nur verantwortlich) scheint einem ganz anderem Zweck zu dienen: Ein schuldbewußter Mensch ist viel leichter steuerbar als ein verantwortungsbewußter. Liebe Journalisten und Veranstalter von „wir-sind-ja-alle-sooo-schuldig-happenings“: Geht hin und fühlt euch schlecht. Wenn es euch dabei bessergeht, ok. Aber mich und die anderen laßt mit eurem geradezu ekelhaften und hypochondrisch anmutenden Selbstbeweihräucherungen in Leidenspose mit Heiligenschein bitte in Ruhe.

  • P
    PeRö

    die Verbrechen des deutschen Volkes in Erinnerung zu bringen ist das einzige Mittel sie in Zukunft zu verhindern.

    Wenn man sich aber nur den Tag als solches in Erinnerung ruft wird es den Opfern nicht gerecht. Man muss die Taten benennen und wenn nötig auch bebildern.

     

    Wer da sagt - es sei auch mal gut, dem sei aufs Neue gezeigt was geschehen...

  • M
    Maik

    @Rolf Rejek: wer die Vergangenheit nicht kennt, so wie ganz offensichtlich Sie auch, ist anfällig für die Propaganda der jeweils aktuell Herrschenden.

  • G
    godzilla

    "VERGESSEN UND VERGESSEN UND VERGESSEN" (Heiner Müller, Wolokolamsker Chaussee V)

     

    schnaubend

    godzilla

  • T
    Ted

    LOL, wieder melden sich die glücklichen Nachgeborenen. Die mit der Gnade der späten Geburt.

     

    Ich verwette mein gesamtes Hab und Gut:

     

    Wetten, dass genau diese Leute in anderen Beiträgen das Wort "Deutscher" in jedem zweiten Satz verwenden!? Als Hinweis, dass sie was besseres sind. Dabei stört natürlich jeder Hinweis auf das größte Verbrechen in der Geschichte.

     

    Oder, dass diese Leute den Türken von heute vorwerfen, dass ihre Vorvorfahren mal vor Wien standen? Aber ist klar, mit dem Zweiten Weltkrieg hat man natürlich nix zu tun. So differenziert muss man ja wohl noch sein dürfen.

     

    Ihr Nachfahren von Nazis, lernt erstmal, was man unter einem Volk evtl. verstehen könnte. Sonst könnte man nur auf die Dinge verweisen, die man ausschließlich selbst angestellt oder vollbracht hat.

  • BO
    Born on the 4th of July in the Year 1974

    Ich habe es satt. Es gibt weiß Gott genügend Gedenktage hinsichtlich der Nazi-Gräuel.

     

    Das heißt noch lange nicht, dass wir vergessen sollten. Unsere Generation hat die Verantwortung dafür, dass aus der Vergangenheit gelernt wird und dass so etwas nie wieder geschieht.

     

    "Ich bin daran schuld, dass Du im KZ gestorben bist."

     

    Eben nicht. Ich lehne es ab, für die Schandtaten meiner Vorfahren schuldig gesprochen zu werden oder mich zu schämen. Ich war's nun mal nicht. Dafür bin ich zu jung. Tut mir leid.

  • TS
    Tyrone Slothtrop

    Und bevor ihr eure Hände wieder in Unschuld wascht, obwohl sie von niemandem als schmutzig bemängelt wurden, empfehle ich einfach mal den Artikel zu lesen, ohne sich gleich auf das erste

    Schlagwort zu stürzen, das einem beim Drüberfliegen

    hängen geblieben ist. Zugegeben, der Titel ist Mist, aber die Behauptung lautet doch nur:

     

    " ... die Bundesrepublik übernahm das Feindbild vom bösen Bolschewisten, und in der DDR bewirkten all die offiziellen deutsch-sowjetischen Verbrüderungen eher das Gegenteil. (...) Schuld und Scham passten nicht in die politische Landschaft."

     

    Erstens ist hier von der politischen Landschaft der Bundesrepublik die Rede, die zum Zeitpunkt ihrer Entstehung alles andere als frei von während der NS-Zeit aktiv Beteiligten war, zur Verdeutlichung steht dort deshalb auch "passten". Zweitens, und ich spreche nicht von Kollektivschuld, trägt ein Staat respektive eine Nation eine andere Verantwortung, als der einzelne. Das Aussterben der Zeitzeugen darf nicht den Abschluss dieses Kapitels deutscher Geschichte bedeuten. Drittens ist es vollkommen richtig, dass das Ausmaß, in dem der Krieg den Tod über die Sowjetunion gebracht hat, von kaum jemanden registriert wird.

     

    Viertens: wenn ihr bei aller Unschuldsbeteuerung die Aufführung der 7.ten Sinfonie von Schostakovitch tatsächlich für perverse "Fremdscham aus Wollust" haltet, dann mutet das schon leicht shizoid an. Ich mein, ey. Echt jetzt. Gravity's Rainbow dann auch, oder wie?

     

    Mit herz- und hirnlichen Grüßen,

    S.

  • RR
    Rolf Rejek

    Jau, immer schön daran erinnern wie die Deutschen 2 Kriege verloren haben. Andere Länder haben auch über die gesamte Geschichte hinweg Massenmorde begangen und tun es heute noch. Sogar ohne Krieg. Allen voran sogar die Kirche als großer Übeltäter. Wie war es denn im amerikanischen Bürgerkrieg, als Soldaten ohne jegliche Chance zu überleben, der Reihe nach erschossen wurden und das zu hunderttausenden. Deutschland muss immer und immer wieder für alles und jeden zahlen und katzbuckeln. Ich persönlich und die meisten aktuell lebenden Deutschen haben noch nicht einmal gelebt als das alles passiert war. Noch ein Denkmal, nochmal das Haupt senken, wozu? Ich gehe erhobenen Hauptes durch die Strassen und verschwende in meinem täglichen Leben keinen Gedanken an den WK1 und 2. Wie gesagt, ich hatte da nicht einmal gelebt. Andere Länder sind da schlauer. Die feiern ihre Erfolge und bedauern ihre Niederlagen. Gehen aber trotzdem aufrecht durch die Welt und schauen in die Zukunft und und weiden sich nicht im Blut der Vergangenheit.

     

    Das musste mal gesagt werden.

     

    Danke

  • PY
    Pedro Yudex

    @Th. Sch: Schuld ist vielleicht nicht der richtige Begriff, aber *Verantwortung* für die Folgen der Verbrechen Deiner Eltern, Groß- oder Urgroßeltern. Und das bis zur anfangslosen Zeit ... Denn Du trägst ihre Gene. Natürlich in der Praxis ist das menschliche Gedächtnis auf nur wenige Generationen beschränkt. Trotzdem, manche fühlen sich Stoltz dafür, was die vielen Generationen seit dem Mittelalter oder früher an Kultur und anderen Werten geschaffen haben. Wenn es so ist, dann gilt es auch sich zu schämen für deren Verbrechen.

  • AW
    axel wartburg

    was für ein prapagandistsicher schmarn.

     

    1. Nur weil es keinen Bedenktag gibt, heißt es nicht, dass dieser Akt vergessen ist.

     

    2. Scham ist das, womit sich noch immer viele dumm halten lassen.

     

    Wieso sollte ich mich dafür schämen, was in der Generation meiner Großeltern verbrochen wurde?

     

    3. Eindeutiog ein Zeichen dafür, dass es an der Zeit ist, dass sich die ältere Generation bewusst macht, dass jüngere Generationen einen lösungsorientierteren Umgang mit der Vergangenheit hegen. Einen, der ein gesünderes Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl zulässt.

     

    Herzliche Grüße

  • PY
    Pedro Yudex

    Ist das verwunderlich für einen neo-faschistischen Staat?

  • F
    franziska.qu

    Er wurde verdrängt, weil es politisch nicht passt. Er wurde verdrängt, weil es neben den massengemordeten Juden keine weiteren massengemordeten Opfer geben sollte. Der Angriff auf die Sowjetunion war ein von der damaligen deutschen Elite (heute nur noch 'Hitler' als Singular genannt)bewußt geplanter und gewollter Krieg und ein geplanter Vernichtungskrieg gegen die Menschen. Völkermord. Alleine 30 Millionen Sowjetbürger sollten lt. Plan verhungern. Um die Story (im Sinne von Erzählung, so wie wir etwas nach Meinung anderer in Erinnerung behalten sollen) von der Singularität des Massenmordes an den Juden aufrechterhalten zu können, wurde die Wahrheit über diesen Krieg gegen die Sowjetunion stets verniedlicht oder verdrängt. Staatsgewollt.Ein weiteres ist sicher die ideologische und bis heute Aufrecht erhaltene Frontstellung des 'Westblockes' gegen die Sowjetunion, bzw Rußland. Da war und ist! ein Bild dieses Landes als Opfer nicht gewollt.

  • TS
    Thomas Sch.

    Was mich an diesen ganzen "Wir-Erinnern-an-Nazizeit" - Veranstaltungen mißfällt, steht sehr gut auch in diesem Artikel: "Scham". Wie bitte ? Ich bin 1961 geboren und habe in meinem Leben noch niemanden umgebracht. Wofür sollte ich mich schämen ? Zu sagen, alle Deutschen sind bis in die Ewigkeit "irgendwie" schuldig, wäre nämlich ein Rassismus. Capito ? Und trotzdem suhlen sich die Macher solcher Artikel und Veranstaltungen wie die Schweine im eigenen Dreck. Warum tun die das ? Fremdschämen aus Wollust ? Hochgefühl durch Selbstbesudelung ? Ist doch pervers. Wer meint, daß irgendjemand für das, was seine Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern getan haben, schuldsein soll, der soll mir erklären, bis in welche Generation das zurückgeht und warum.

  • A
    Asiatica

    Danke! - Aber warum auch hier und an dieser Stelle der immer wohlfeile Schlag gegen die DDR? Geht es denn niemals ohne? Kann man nicht einfach mal feststellen, dass der 22. Juni für viele Menschen in der DDR ein Tag des sehr bewussten Gedenkens gewesen ist? Und zwar sehr oft und für viele auch ein Tag des ganz bewusst erlebten gemeinsamen Gedenkens mit sowjetischen Soldaten und Offizieren? Kann man nicht ein einziges Mal akzeptieren, dass innerhalb all des so oft gescholtenen Offiziellen etwas für viele Menschen an vielen sowjetischen Armeestandorten in der DDR überaus Berührendes existierte? Dass man sich traf, miteinander sprach, sich kannte? Dass Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger der DDR in der Sowjetunion die dortigen Gedenkstätten besuchten? Und auch dabei mit den Menschen sprachen? Und sich gemeinsam erinnerten? Und dass darum auch heute noch im Osten unseres Landes für viele der 22. Juni ein wichtiger Tag geblieben ist? Kann man nicht ein einziges Mal akzeptieren, dass es in der DDR ungezählte sowjetische Bücher und Filme gab, die den 22. Juni zum Thema hatten, dass über diese Bücher und Filme intensiv diskutiert wurde - und dass im übrigen der 8. Mai immer ein Feiertag war, der für viele Menschen wirklich ein prägender geworden ist?

     

    Ja, genau: Daraus hätte man 1990 eine neue Gedenkkultur entwickeln können. Wenn man die DDR und die in ihr lebenden Menschen ernst genommen hätte.