Kommentar zu Stuttgart 21: Wer schützte den Rechtsstaat?
Die Baumfällaktion in Stuttgart wurde nicht sorgfälitig geplant. Wer in einer rechtlich undeutlichen Lage Wasserwerfer losschickt, nimmt eine Rechtsverletzung in Kauf.
N ein, das Bahnhofsprojekt in Stuttgart muss nicht am Juchtenkäfer scheitern. Das vorweg als Botschaft an all diejenigen, die jetzt wieder auf das europäische Artenschutzrecht einschlagen wollen und sich über den Juchtenkäfer lustig machen. Es geht auch nicht darum, dass ein Naturschutzverband wie der BUND alle juristischen Register zieht, um mit einstweiligen Verfügungen Infrastrukturprojekte zu blockieren.
Bei korrekter Begründung und Ausgleichsplanung könnte auch eine Baumfällaktion, wie in Stuttgart geschehen, durchaus rechtens sein. Der BUND hat aber am Donnerstag noch einmal im Detail dargestellt, dass genau diese sorgfältige Begründung und Planung fehlten. Und dieser Vorgang ist brisanter als alles, was bisher in der Schlichtung von Stuttgart 21 und im Rahmen des Untersuchungsausschusses des Landtags zum umstrittenen Polizeieinsatz zur Sprache kam.
Wer hat in Stuttgart eigentlich den Rechtsstaat geschützt? War es die Landesregierung in Baden-Württemberg, die mit dem Polizeieinsatz das verbriefte Recht eines Bauherrn zur Baumfällung durchsetzte? Oder war es nicht vielmehr genau andersherum. Haben hier Demonstranten versucht, eine illegale Baumfällung zu verhindern, die dann erst mit Polizeigewalt und unter Inkaufnahme von Personenschäden erzwungen wurde? Wenn Letzteres der Fall war, stellt sich auch die Frage nach einer Haftung und möglicherweise auch die nach strafrechtlichen Konsequenzen.
Martin Unfried, ist Autor der taz-Kolumne "Ökosex" und arbeitet als Dozent am European Institute of Public Administration in Maastricht im Bereich der EU-Umwelt- und Klimapolitik.
Da ist es durchaus schwindelerregend, wie detailliert der BUND aufgrund seiner Recherchen darlegen konnte, warum die Baumfällung illegal gewesen sei: Den Landesbehörden muss bewusst gewesen sein, dass es mit Blick auf den Schlossgarten noch artenschutzrechtliche Probleme gab, die vor Beginn der Baumfällungen zu lösen waren. Und das zuständige Eisenbahnbundesamt habe die Bahn als Bauträger mehrmals aufgefordert, vor Beginn der Baumfällung nähere Untersuchungen zum Artenschutz vorzulegen. Genau dies scheint nicht geschehen zu sein.
Geradezu grotesk erscheint insbesondere die Geheimniskrämerei, die am 30. September, am Tag des Polizeieinsatzes, gegenüber Verwaltungsgericht und Naturschutzbehörde betrieben wurde.
Auch wenn die juristische und politische Aufklärung erst am Anfang steht: Wer, wie in Stuttgart, in einer rechtlich undeutlichen Lage die Wasserwerfer losschickte, der nahm die potenzielle Rechtsverletzung zumindest in Kauf.
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