Kommentar von Harald Welzer: Warum ist Corona-Tracking okay?

In Zeiten von Seuchen werden blitzartig neue Normen etabliert. Wer sich verweigert, gilt als unsolidarisch.

Bild: Reuters

Von Harald Welzer

Corona macht nicht nur Vieles möglich, was zuvor undenkbar schien, es beschleunigt auch ganz ungemein. Es waren ja blitzeschnelle fünfeinhalb Wochen, die es von der breiten Ablehnung der Auswertung von Handydaten bis zur breiten Akzeptanz gedauert hat. Am 6. März hatte das Robert-Koch-Institut mitgeteilt, dass Handydaten super ausgewertet werden könnten, um die Wege der Infektionsausbreitung zu tracken, aber das stieß damals (beim Stand von 150 Infizierten) auf allgemeine Ablehnung – mit datenschutzrechtlicher Begründungen ebenso wie mit solchen der Ineffizienz.

Am 18. März übergab die Deutsche Telekom unter den hochgezogenen Augenbrauen der kritischen Öffentlichkeit dem RKI die ersten aggregierten Datensätze, und als der Gesundheitsminister am 21. März per Gesetzesvorlage „technische Mittel einsetzen wollte, um Kontaktpersonen von erkrankten Personen zu ermitteln“, erhob sich noch breiter Widerstand – von der Justizministerin über die Datenschutzbeauftragten bis hin zu den Medien.

Bei rasant steigenden Infektionszahlen stieg aber schon bald die Akzeptanz für die Idee, eine App auf freiwilliger Basis dafür einzusetzen, exakt dies zu tun: nämlich die Kontaktpersonen von Infizierten per Bewegungsprofil zu ermitteln und zu informieren.

Prinzip der Freiwilligkeit

Diese erstaunliche Akzeptanz bis hinein in die Netzgemeinde ist auf eine interessante Dreifaltigkeit von Gründen zurückzuführen: erstens auf die Ausbreitung des Virus, zweitens auf den Wunsch nach Lockerung der Kontakt- und Bewegungsbeschränkungen und drittens auf das Prinzip der Freiwilligkeit.

Hier kombinieren sich die neue gesellschaftliche Norm der Virusbekämpfung mit dem individuellen Bedürfnis nach Entlastung von dieser Norm und einer Freiwilligkeit, die de facto wohl nur formal existieren wird. Denn schon jetzt, da es die App noch gar nicht gibt, wird allenthalben betont, dass sie ja nur dann Sinn mache, wenn mindestens 60 Prozent der Menschen sie auch nutzen.

In Zeiten von Seuchen werden in hoher Geschwindigkeit soziale Normen etabliert, denen man sich nur unter dem Vorwurf entziehen kann, unsolidarisch zu sein – das gilt für das Abstandhalten ebenso wie für das Mundschutztragen und wird für die App genauso gelten.

Aufforderung zur Konformität

In der Aufforderung zur Konformität liegt im Übrigen ja auch der einzige erkennbare Sinn der frappierend inhaltsfreien Osteransprache des Bundespräsidenten, in der er den Bürgerinnen und Bürgern das doch leicht übertriebene Lob zuteil werden ließ, sie seien nun alle durch ihr ordnungsgemäßes Verhalten zu Menschenrettern geworden.

Das bedeutet im Umkehrschluss allerdings, dass jeder, der an irgendeiner Stelle den Empfehlungen nicht folgt, sich weigert, Menschenleben zu retten. Und, bitte, wer wollte sich diesen Vorwurf zuziehen? Eben. Deshalb ist auch gleich irgendwer auf die grandiose Idee gekommen, das Wort „Datenspende“ zu erfinden. Der Verzicht auf Privatheit als altruistischer Akt – und alle werden gern geben.

Kostet ja nix.

So funktioniert die wundersame Konsensverschiebung, und sie wird zur erstmaligen, aber folgenreichen Einführung eines als legitim empfundenen Trackings von Bewegungen und Kontakten in den Alltag führen. Die Coronakrise ist, wie man nicht zuletzt an diesem Beispiel sieht, auch ein gigantisches soziales Experiment, das zeigt, wie flexibel Verhaltensnormen und Akzeptanzbereitschaften unter Bedingungen des Ausnahmezustands sind.

HARALD WELZER ist Sozialpsychologe und Herausgeber von taz FUTURZWEI, Magazin für Zukunft und Politik.

.
.