piwik no script img

Kommentar Visafreiheit für die TürkeiAuf dem Rücken der Flüchtlinge

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

So erfreulich die neuen Verhandlungen sind, so skandalös sind die Bedingungen der EU für die Visafreiheit. Im Gegenzug soll die Türkei Flüchtlinge aus der EU fernhalten.

V or zwei Tagen hat der Ministerrat der EU einen Beschluss gefasst, auf den die Türkei jahrelang gewartet hat. Der Rat beauftragte die EU- Kommission, mit der Türkei über visafreien Reiseverkehr zu verhandeln. Jahrelang war das insbesondere von Deutschland und Frankreich blockiert worden, der Präsidentenwechsel in Paris soll jetzt die Wende gebracht haben.

Nichts hat das Verhältnis zwischen der Türkei und der EU in den letzten Jahren so belastet wie die von Türken fast durchweg als schikanös empfundene Vergabe oder eben Nichtvergabe von Visa an Bürger eines Landes, das immerhin seit 2005 formal über einen Beitritt verhandelt.

Doch so erfreulich die jetzt in Aussicht gestellten Visaerleichterungen sind, so skandalös sind die Bedingungen, die die EU daran knüpft. Die Roadmap für die Visafreiheit hat die EU nur deshalb angeboten, um die Türkei endlich in ihre Vorfeldorganisation zur Bekämpfung „illegaler Migration“, wie es im Bürokratensprech heißt, einbeziehen zu können.

Bild: archiv
JÜRGEN GOTTSCHLICH

ist Türkeikorrespondent der taz und lebt in Istanbul.

Tatsächlich geht es darum, dass die türkische Polizei und Armee in Zusammenarbeit mit der EU-Grenzschutzorganisation Frontex Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Iran und vielen anderen Ländern daran hindern soll, in die EU, also konkret nach Griechenland, einzuwandern. Rund 85 Prozent aller Flüchtlinge, die ohne gültige Papiere in die EU einreisen, kommen derzeit über die türkisch-griechische Grenze.

Seit Jahren steht das Tauschgeschäft „Visa gegen Flüchtlinge“ im Raum; seit langem fordert die EU, dass die Türkei sich, wie andere Staaten an den Außengrenzen der EU, dazu verpflichtet, Flüchtlinge, die über ihr Territorium in die EU gekommen sind, zurückzunehmen oder gleich aktiv bei dem Versuch, in die EU zu gelangen, zu bekämpfen. Die Türkei wollte dies nicht ohne Gegenleistung tun und forderte wie die Länder auf dem Balkan im Gegenzug dafür Reisefreiheit für ihre eigenen Staatsbürger. Der Deal ist jetzt perfekt, auf dem Rücken der Flüchtlinge.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
Mehr zum Thema

10 Kommentare

 / 
  • G
    gegenrassismus

    Was haben die Tuerken euch schlechtes getan?

    :-(

  • SP
    St. Pete

    Bis zum 01.10.1980 konnten türkische Staatsangehörige für einen kurzfristigen Aufenthalt ohne Visum einreisen. Die Visumpflicht wurde dann erst eingeführt, weil es zu viele Missbrauchsfälle gab. Slebst mit Visumpflicht, liegt die Türkei bei der Anzahl der Personen, die sich (v.a. zur Ausnutzung der Sozialsysteme) illegal einen Daueraufenthalt in Deutschland/der EU verschaffen noch ganz weit vorn.

    Wie sich die Visafreiheit für Serbien und andere Balkanstatten 2009 ausgewirkt hat, ist bereits jetzt zu beobachten. Aber wir zahlen ja gerne!

  • H
    HamburgerX

    Keine Visa-Freiheit für die Türkei! Deutschland und der Schengenraum müssen mehr Kontrolle darüber gewinnen, wer die eigenen Grenzen betritt und wer nicht.

  • V
    vic

    Bezeichnend:

    Flüchtlinge "bekämpfen", lautet die EU-Vorschrift.

    Frontex klingt nicht umsonst wie ein Monsanto-Schädlingsbekämpfungsmittel.

    Das ist jämmerlich und einem sogenannten demokratischen Staatenverbund nicht angemessen.

    Flüchtlingen helfen, wäre der einzig richtige Weg. In der EU oder in der alten Heimat- wo auch immer, doch wenn sie schon hier sind, dann eben hier.

  • D
    delice

    Die EU ist nichts anderes als ein Staatenverbund, also ein loser Zusammenschluss von Nationalstaaten die einen gemeinsamen Binnenmarkt als einen großen Wirtschaftsraum definieren. Alles andere sind nur Zugeständnisse an die jeweils eigene Bevölkerung. Das nennt sich im Übrigen Zollunion! Die Türkei ist seit den 80er Jahren Vollmitglied, aber ohne Stimmrecht. Faktisch ist die Türkei schon längst mehr als previligiert, eigentlich schon längst in der EU angekommen, einzig die eigenen Staatsangehörigen werden daran gehindert, nicht aber ihren Waren, Dienstleistungen und das liebe Kapital! Die Visabeschränkung ist aus dem Primärrecht des Gemeinschaftsrechts heraus ableitend ohnehin völlig illegeal und wird auch so kommen!

  • LM
    leck mich

    Reisefreiheit für EU-Bürger , die für (fast) jedes Land ein Visa bekommen, ist ein unglaublicher Fortschritt was individuelle Freiheit angeht und defacto ein riesen Privileg.

    Das nicht-EU-Bürger bei Grenzübertritten schikaniert werden kann ich 1x pro Monat beobachten.

    Das Verhalten europäischer Grenz/Zoll beamten gleicht denen der ehemaligen Sovietunion.

    Traurig das Reisefreiheit in Europa nach 89 immer noch Thema ist.

  • I
    ion

    "Doch so erfreulich die jetzt in Aussicht gestellten Visaerleichterungen sind, so skandalös sind die Bedingungen, die die EU daran knüpft.";

     

    Skandalös daran ist, dass die Türkei "auf dem Rücken der Flüchtlinge" die EU seit Jahren erpresst, um Visafreiheit für Türken zu erhalten.

    Noch skandalöser ist daran, dass die EU jetzt vermutlich auch noch dafür bezahlen muss (Frontex-Einsätze), dass es an türkischen Grenzen rechtskonform zuginge.

     

    (23.06.2012 17:35)

  • S
    Serdar

    Skandaläs ist es auch der Türkei ein deal anzubieten obwohl Rechtlich gesehen Türkische Staatsbürger seit Jahren zu Unrecht ein Visum besorgen müssen. Das Europäische Gerichtshof hat eine Klage eines Türkischen Staatsbürgers zu gunsten der Visafreiiheit für Türkischen Staatsbürger entschieden und durch das Ankara abkommen hätte die EU den Türken keine Visa Barriere aufbauen dürfen! Man tut jetzt so als ob die Türkei jetzt im gegenzug gütiger weise die Dreksarbeit für die EU übernehmen würde und somit VIsafreiheit erkaufen würde aber in Warheit muss die Türkei kein Deal machen.

  • E
    elisabeth

    Es darf keine Visafreiheit für Nicht-EU-Bürger geben,

    weil sonst die EU-Mitgliedschaft gegenüber

    einer Nicht-EU-Mitgliedschaft überhaupt

    kaum echte Vorteile für die EU bringt!!!

     

    Die Türkei erpresst die Visafreiheit für ihre Bürger

    und erhöht die Arbeitsplatzkonkurrenz innerhalb

    der EU massiv. Das wollen wir hier nicht!!

    Das Signal der EU ist, erpresst uns wir liefern

    Euch unsere Arbeitsbedingungen und Lebensbedingungen

    aus!!! Das ist keine Basis für Diplomatie!

    Erdogan, scher Dich zum Teufel!

  • T
    tommy

    Wieso auf dem Rücken der Flüchtlinge? Was hindert Sie denn daran, in der Türkei Asyl zu beantragen? Für Flüchtlinge aus islamischen Ländern sollte doch die Integration in einem islamischen Land wie der Türkei einfacher als in Europa sein. Oder sind hier die Grenzen der islamischen Solidarität, die Erdogan sonst so gerne beschwört, erreicht? Ist die Türkei am Ende doch kein Rechtsstaat? Fragen über Fragen, auf die es aber keine Antwort gibt, weil sie noch nicht einmal gestellt werden und es ja anscheinend naturgesetzlich ist, dass echte und angebliche Flüchtlinge als Ziel Europa haben.