Kommentar Telefonüberwachung: Außer Kontrolle
Das Abfragen von Verkehrsdaten bringt für Polizeiermittlungen meist nichts, legt aber menschliche Beziehungsgeflechte offen. Es fehlt an wissenschaftlicher Expertise über die Folgen.
Jede Pille muss getestet werden, bevor sie in den Handel kommt. Jede ordinäre Wandfarbe wird darauf geprüft, ob sie der Gesundheit schadet. Doch bei Überwachungsmaßnahmen nimmt es der Staat locker. Ein kurzer Verweis auf 9/11, den globalen Terror oder Kinderpornografie reicht - zack, schon gibt es neues Gesetz. Ob der Nutzen die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten rechtfertigt, danach wird nur noch selten gefragt.
Bevor der Bundestag im November 2007 über das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung abstimmte, gab er beim Max-Planck-Institut eine Studie in Auftrag. Doch die Ergebnisse hielt man zurück - angeblich wegen Zweifel an der Qualität. Wahrscheinlicher ist, dass hier eine unbequeme Diskussion unterbunden werden sollte. Schließlich steht in der Studie, dass das Abfragen von Verkehrsdaten in zwei Dritteln der untersuchten Fälle nichts gebracht hat. Gleichzeitig wird dieser Maßnahme ein hohes Überwachungspotenzial attestiert - menschliche Beziehungsgeflechte sind für die Beamten damit ein offenes Buch.
Niemand weiß, ob mehr Abgeordnete im Bundestag gegen die Vorratsdatenspeicherung gestimmt hätten, wenn ihnen die Studie vorgelegen hätte. Aber sie hätten ihre Entscheidung auf der Basis fundierter Erkenntnisse fällen können. Innenpolitiker wie Wolfgang Schäuble argumentieren gerne, dass die Polizei nach solchen Maßnahmen verlange. Doch was sollen die Sicherheitsbehörden auch anderes sagen, als für sich mehr Kompetenzen zu fordern? In der Diskussion um staatliche Überwachung sind sie zwangsläufig Partei.
Woran es fehlt, ist mehr wissenschaftliche Expertise über die Kosten und die Folgen von Überwachungsmaßnahmen. Der nächste Fall steht schon vor der Tür. EU-Sicherheitskommissar Franco Frattini möchte gern die Daten von Fluggästen über 13 Jahre lang speichern lassen. Wenn wir hier nur den Einschätzungen der Sicherheitsbehörden vertrauen, dann können wir künftig auch die Pharmaindustrie darüber entscheiden lassen, welche Nebenwirkungen bei ihren Medikamenten zulässig sind.
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