Kommentar Ständige Erreichbarkeit: Der Fluch der Technik
Arbeitnehmer sind nicht wegen Smartphones ständig erreichbar, sondern wegen ihrer Abstiegsangst. Diese Angst könnte ihnen Ursula von der Leyen nehmen.
W er hat Schuld daran, dass sich immer mehr Menschen von ihrem Job drangsaliert fühlen? Von der Leyen hat da eine interessante Theorie, die den Vorteil hat, niemanden konkret anzugreifen: es ist – Trommelwirbel – das Smartphone.
Der Fluch der Technik ist die ständige Erreichbarkeit, und diesem Fluch müssen nun beide, Arbeitnehmer und -geber, begegnen: indem man feste Kommunikationszeiten ausmacht zu Beispiel, indem man in seiner Freizeit offline ist.
Das ist beeindruckend kurz gesprungen, denn es wird wohl niemand freiwillig das Wochenende über sein Diensthandy freiwillig mit sich spazieren tragen. Und doch ist das die Realität in der Arbeitswelt. War lange Zeit das Angestelltenverhältnis idealtypisch, sind jetzt die Freiberufler großes Vorbild bei der Arbeitsorganisation: das Zauberwort heißt Flexibilität, vor allem zeitliche. Von der Leyen selbst fordert sie, wenn sie nicht über Burnout redet, gerne ein, zum Beispiel gegenüber Alleinerziehenden.
Nun sind Burnout und psychische Belastungsstörungen durchaus ein wichtiges Thema. Erst im März dieses Jahres veröffentlichte der DGB eine Studie, nach der sich immer mehr Arbeitnehmer von ihrer Tätigkeit gestresst fühlen. Die OECD vermutet, dass bis zur Hälfte aller Frühverrentungen wegen psychischer Belastung beantragt werden; mindestens 20 Prozent aller Arbeitnehmer seien ausgebrannt, manche Studien sprechen von fünfzig Prozent.
ist Autor der taz.
Angst vor dem Abstieg
Warum tut man sich das an? Nur weil so ein Diensthandy keinen Aus-Knopf hat? Weil das Smartphone einen zwingt, jede geschäftliche Mail, sobald sie im Postfach liegt, innerhalb dreißig Minuten zu beantworten?
Doch die ständige Erreichbarkeit ist nicht nur belastend; laut einer Umfrage aus dem Jahr 2009 sind 73 Prozent der berufstätigen Internetnutzer auch außerhalb des Jobs für ihre Arbeit erreichbar. Längst nicht alle davon sind der Verzweiflung nahe. Es ist vielmehr so (und das weiß man, seit es das Internet gibt), dass die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit immer mehr verschwindet.
Die Belastung ist tatsächlich eine andere: Hartz IV ist nicht deswegen so niedrig, um Arbeitslose zu gängeln. Das ist nur der Nebeneffekt. Hartz IV reicht deswegen kaum zum Leben, um einen Leidensdruck aufzubauen, der die fortwährend und immer stärker vom Abstieg bedrohte Mittelschicht das Fürchten lehren und disziplinieren soll.
In der Angst, in der sozialen Versenkung zu verschwinden und ein Leben mit Behördengängelei und in schikanösen finanziellen Verhältnissen zu fristen, passt er sich an die heutige Arbeitswelt an.
Man beugt sich nicht dem Smartphone
Das ist das eine; wenn Angestellte ihr Rückgrat an den Garderobenständer hängen, dann aus Furcht vor Jobverlust und dem anschließendem Abstieg. Diese Furcht könnte man ihnen durchaus nehmen, allein: Ursula von der Leyen ist gegen die Sockelrente zur Bekämpfung der Altersarmut. Gegen das Grundeinkommen sowieso.
Denn, so sagte sie im Sommer letzten Jahres, sie befürchte von beiden Vorhaben „eine negative Signalwirkung im Hinblick auf die Stärkung der Eigenverantwortung der Bürger“. Die Eigenverantwortung der Bürger, das ist seine Abhängigkeit vom Lohnerwerb.
Das Problem dabei ist nicht, dass man sich seinem Smartphone beugt, sondern dem Willen seines Chefs oder Auftraggeber unter Vernachlässigung eigener Bedürfnisse. Smartphones machen die Leine nur ein kleines bisschen kürzer. Die Schwierigkeit ist vielmehr, wenn sich abhängig Beschäftigte nicht trauen, ihrem Vorgesetzten zu sagen, dass die Präsentation erst in drei Wochen ist und deswegen die Fertigstellung auch noch Zeit hat bis Montag.
Da hilft kein Ausknopf, da hilft nur ein gewisses Maß an Unabhängigkeit. Wer die Menschen entlasten will, muss sie von ihren Abstiegsängsten befreien. Nicht von ihren Smartphones.
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