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Kommentar Schwulen-"Heilung"Bekennen und bekehren

Kommentar von Philipp Gessler

Die Gesellschaft differenziert sich weiter aus. Einzelne Gruppen müssen sich stärker profilieren, um wahrgenommen zu werden. Der Marburger Kongress ist ein Symptom dafür.

D ass evangelikale Christinnen und Christen glauben, Homosexualität sei "heilbar", ja dass diese "Heilung" nötig sei - das ist nicht neu. Neu ist, wie massiv sie mit ihren Ansichten in die Öffentlichkeit gehen, auch wenn die Aussagen der Bibel über die Homosexualität alles andere als eindeutig sind.

Eindeutig aber passt der jüngste Marburger Fall zu einer Tendenz, die in der deutschen Gesellschaft insgesamt zu beobachten ist: Die Konfessionen und Weltanschauungen differenzieren sich auch intern immer weiter aus, radikalisieren sich partiell und suchen selbstbewusster die öffentliche Aufmerksamkeit.

Dieser Trend ist bei den christlichen Kirchen, den islamischen Verbänden und im Judentum zu beobachten - aber auch bei den atheistisch-agnostischen Vereinigungen. In der katholischen Kirche steuert Papst Benedikt XVI. einen tendenziell fundamentalistischen Kurs, während etwa der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, der Freiburger Erzbischof Robert Zollitzsch, meist dagegenhält. In den evangelischen Landeskirchen ist die Vielfalt größer: Homosexuelle Führungspersonen sind mittlerweile überall zu finden, während gleichzeitig am Rand des deutschen Protestantismus "bibeltreue" Gruppen durchaus Zulauf haben. Das Judentum ist in Deutschland wieder so bunt wie vor dem Holocaust, ja vielleicht vielfältiger denn je. Im hiesigen Islam gibt es zwar Fundamentalisten, aber auch starke liberale Gruppen. Und die von atheistischen Vereinigungen angebotenen Rituale wie die Jugendweihe bleiben jedenfalls im Osten fest etabliert. Die Kampagnenfähigkeit des Laizismus zeigt sich auch beim Widerstand gegen die Einführung eines Wahlpflichtbereichs Ethik/Religion an Berliner Schulen.

In einer Gesellschaft, die sich immer weiter ausdifferenziert, geschieht Ähnliches auch bei den Weltanschauungen und Konfessionen. Zugleich zwingt die Mediengesellschaft alle Gruppen, ihr Profil zu schärfen. Das geistlich-geistige Leben wird dadurch vielfältiger, schroffer und verrückter auch. Dagegen ist nichts zu sagen.

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7 Kommentare

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  • CW
    Change we can believe in

    @Kreutzer: Ja, klar! Solange sie dich nicht wegen eines persönlichen Merkmals als "krank" oder "heilungsbedürftig" hinstellen und mit gefährlichen, pseudowissenschaftlichen Methoden, die einige Menschen schon in den Selbstmord getrieben haben (das hat sogar unsere amtierende Bundesregierung im vergangenen Jahr zweifelsfrei festgestellt), an deinesgleichen herumdoktern wollen, ist das für dich natürlich "gut zu ertragen". Für jeden, der den Schutz von diskriminierten Bevölkerungsgruppen als zentrale Aufgabe einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft erkannt und die richtigen Lektionen aus der (v.a. deutschen) Geschichte gelernt hat, wo vor gar nicht allzu langer Zeit Tausende von Schwulen in Konzentrationslagern ermordet wurden, sind solche Vorgänge nicht nur unerträglich, sondern mit allen demokratischen Mitteln zu unterbinden!

  • K
    Kreutzer

    Ein sehr guter Kommentar! Vernunft statt Panikmache. Die Welt ist vielfältig und das ist gut so. Das uns manches nicht gefällt müssten gerade wir auf Individualismus gepolten Westler eigentlich ganz gut ertragen können.

  • F
    Funkenmariechen

    Mich ärgert an der linken Presse, dass die Bedrohung von Homosexualität und Frauenrechten durch eine beständig um sich greifende Islamisierung entweder völlig ausgeblendet oder wie hier im Artikel verharmlost wird...

  • M
    Marti

    Der Autor des Artikels schreibt: "Im hiesigen Islam gibt es zwar Fundamentalisten, aber auch starke liberale Gruppen."

     

    Von den starken liberalen Gruppen im Islam habe ich bis heute noch nichts bemerkt. Könnten Sie bitte eine dieser "starken liberalen Gruppen" benennen?

  • P
    polykarp

    Ich kann Herrn Fornacon nur zustimmen: die Diskussion um den Marburger Kongress trägt inzwischen völlig irrationale Züge. Vor 10 oder 20 Jahren liefen auf Treffen evangelikaler Christen noch ganz andere (und wirklich homofeindliche) Sachen, und niemand hat sich aufgeregt. Heute habe ich manchmal den Eindruck, esreichen bereits geringste Abweichungen von der politisch korrekten Mainstreammeinung, und alle (vor allem die ach so toleranten) drehen durch.

    Oder werden hier möglicherweise alte Rechnungen (auf Grund von in der Vergangenheit erfahrenen Verletzungen und Diskriminierungen) beglichen? Das wäre immerhin menschlich verständlich, trägt aber trotzdem nicht zur Diskussionskultur in unserem Land bei.

  • FF
    Frank Fornacon

    Vielen Dank für den nüchternen Kommentar, der sich von der sonst zu beobachtenden Hysterie abhebt, mit der man vor dem Kongress der Akademie für Psychotherapie und Seelsorge warnt. Der eigentliche Skandal ist, dass die Kongressgegner sich weigern zur Kenntnis zu nehmen, dass es auf dem Kongress in keinem Beitrag um das Thema Homosexualität geht. Vielmehr geht es um "Identität - der rote Faden in meinem Leben". Hier wird offenbar ein Musterbeispiel für den Pawloffschen Reflex geliefert. Wenn das Stichwort kommt, beginnt die Meute zu bellen.

  • D
    DiversityAndEquality

    Aha, und vermutlich ist dann auch "nichts dagegen zu sagen", dass junge Homosexuelle in dieser Gesellschaft weiterhin einem aggressiven Maß an homophober Gewalt und nach zahlreichen jüngeren Studien einem exorbitant höheren Selbstmordrisiko ausgesetzt sind, eben weil in dieser Gesellschaft neben der gesetzlichen Diskriminierug durch Staat und Politik weiterhin nach Belieben die Würde homosexueller Menschen verunglimpft, eine mit schwulenfeindlichen Begriffen durchsetzte Jugendsprache geduldet wird, eine fast völlige Ausgrenzung sexueller Vielfalt aus Erziehung, Bildung und Sexualaufklärung stattfindet und und und... Wenn homosexuell empfindende Menschen dann auch noch mit pseudopsychologischen, antihomosexuellen Praktiken bis an den Rand des Selbstmords getrieben werden, nur weil einige Leute ein persönliches Problem mit sexueller Vielfalt (und vermutlich vor allem mit sich selbst) haben, dann ist der Spaß endgültig vorbei und die Grenze zur Volksverhetzung ist klar überschritten! Man muss sich schon wundern, dass die TAZ einer solch skandalösen Bagatellisierung homofeindlicher Propaganda und psychischer Gewalt gegen Homosexuelle in unserer Gesellschaft, wie im vorstehenden Kommentar ausgeführt, eine Plattform bietet.