Kommentar S-Bahn-Chaos: Diese Bahn macht einfach krank
Traurig, aber wahr: Dieses Unternehmen ist ein Schlamperladen hoch drei, der zahlende Kundschaft offenbar verachtet.
S turmreif schießen" nannte man in kriegerischen Zeiten das, was die Berliner S-Bahn heute betreibt. Dabei richten sich die Attacken nicht gegen die Konkurrenz - im Visier hat das Unternehmen die eigene Kundschaft. Am Donnerstag ging auf den Trassen bekanntlich nichts mehr. Nach der schweren Panne fielen am Samstag erneut fünf Linien aus. Am Sonntag standen wieder Züge still, als sich plötzlich die halbe Belegschaft krankmeldete. Zufall? Wohl kaum.
Nach der schweren Panne vom Donnerstag war die Berliner S-Bahn auch am Wochenende noch weit von Normalität im Fahrplan entfernt. Am Samstag fielen Züge auf fünf Linien aus, am Sonntag waren noch zwei Linien - die Nord-Süd-Bahn S25 und die S47 Richtung Südosten - betroffen, wie die S-Bahn informierte. Mehrere Fahrer seien kurzfristig erkrankt, hieß es von der Bahn zur Begründung. Derzeit seien von rund 1000 Fahrern 90 krankgemeldet, sagte ein Sprecher. Der Krankenstand sei bereits vor den kurzfristigen Krankmeldungen zum Wochenende hoch gewesen. "Der Personalplan war ohnehin schon so eng gestrickt, dass sich das System nicht mehr halten lässt. Wir haben keine Reserven mehr. Die Schmerzgrenze ist erreicht." Der Schichtplan sei aber trotzdem erstmal besetzt, so dass der Verkehr von Montag an wieder normal laufen solle - "es sei denn, es wird nachts wieder einer krank." Spekulationen über einen "kalten Streik" der Belegschaft wies der Bahnsprecher zurück. "Dazu gibt es keinen Grund - auch wenn es für alle momentan sehr anstrengend ist - die Mannschaft zieht weiterhin an einem Strang."
Ob die Fahrer die Arbeit virenbedingt oder aus Scham oder Protest gegen das eigene Unternehmen einstellten, sei dahingestellt. Die Strategie dagegen scheint: Die Transporteure aus dem Haus der Deutschen Bahn AG setzen ihren Fahrgästen jetzt schon so zu, dass diese später bei Eis und Schnee froh sind, nicht auch noch selbst die Schienen freischippen zu müssen. Darüber hinaus erwartet man dann von der S-Bahn nichts mehr.
Dass das nervende Bahn-Desaster längt das Vertrauen der Berliner in die S-Bahn zerstört hat, ist nichts Neues. Das einstmals glorreiche Verkehrssystem der Reichsbahn liegt am Boden. Selbst zu Holzklasse- und DDR-Zeiten funktionierte das Symbol metropolitaner Mobilität verlässlicher als derzeit. Sicher, eine Weiche kann immer mal ausfallen, eine Sicherung durchbrennen oder die Tür klemmen. Aber wenn ein hochtechnisiertes Transportsystem seinen Geist aufgibt, ist das die Konsequenz jahrelanger Unterlassungen durch das Bahn-Management - aber auch durch die Berliner Verkehrspolitik.
Die S-Bahn ist zum permanenten Sündenfall avanciert. Darum sollten der neue Verkehrssenator Michael Müller und sein Staatssekretär Christian Gaebler (beide SPD) jetzt nicht zu laut aufheulen. Ihre Partei hat schließlich beim anschwellenden Schienenchaos zehn Jahre lang mitgespielt.
Richtig wütend macht, dass Bahn-Chef Rüdiger Grube genauso wenig wie sein Vorgänger Hartmut Mehdorn Veränderungsbedarf in der Ausstattung sieht - und schon gar nicht bei der Unternehmenskultur. Auf den Schienen fährt (besser: steht) ein Schlamperladen hoch drei, der zahlende Kundschaft offenbar verachtet. Wer Fahrgäste in Tunneln und Bahnhöfen sitzen lässt, nicht informiert, Wagenheizungen abdreht, die Fürsorgepflicht verweigert, Ersatzverkehr nicht auf die Reihe bekommt, keine Reserven hat, Mitarbeiter krank macht und so weiter und so weiter, der schießt, wie gesagt, seine Kunden sturmreif. Dass der Schuss nach hinten losgehen wird, beruhigt nicht. Die Fahrgäste trifft er trotzdem.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Vorschläge für bessere Schulen
Mehr Führerschein wagen