Kommentar Retropien und Nostalgie: Die Sehnsucht nach mehr Lametta
Zwei Drittel der Menschen in Deutschland glauben: Früher war die Welt besser. Viele verorten sich politisch rechts von der Mitte.
D amals, als die Welt noch in Ordnung war, als die Menschen noch richtige Lieder sangen, für Arbeitnehmerrechte demonstrierten, noch nicht immerzu auf ihre Handys glotzten und noch Tierfelle trugen, damals schrieb ein Mann namens Loriot ein Stück namens „Weihnachten bei Hoppenstedts“. Der Nachwuchs bekommt darin einen Atomkraftwerk-Bausatz geschenkt und der bekannteste Satz ist der des Großvaters, der über den Wandel der Zeiten klagt: „Früher war mehr Lametta!“
Es ist ein Sketch, der gerne als zeitlos beschrieben wird. Aber man muss nur mal ein Kind fragen, ob es die Pointen darin versteht, eines jener nachgeborenen Geschöpfe also, die wohl annehmen müssen, dass ein Fußballtrainer nur Joachim Löw heißen kann und Angela Merkel seit Anbeginn der Welt das Land regiert. Das Kind wird schauen wie ein Auto und dann fragen: „Ähm, excusez-moi, aber was ist dieses Lametta?“
Alles hat seine Zeit. Die des Lamettas liegt hinter uns. Nicht mehr lange, und die Kinder wissen auch nicht mehr, was ein Atomkraftwerk ist. Es gibt freilich Menschen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als dass nach der Ära Merkel jemand das Rad zurückdreht auf einen Urzustand, in dem wir alle einander die Läuse von den Köpfen knibbelten, was ungefähr in jener Zeit gewesen sein muss, in der Friedrich Merz das Feuer erfand.
Aus dem vulgärkonservativen Wunsch nach einer Rückkehr in eine frühere Zeit spricht der Traum von einer überlieferten Ordnung, die längst zu Staub zerbröselt ist. Sicherheit war gewährleistet, denn Amerika war der beste Partner. Der Strom kam aus der Steckdose. Europa war Friede, Freude, Freiheit und wir Männer konnten samstags nach dem Autowaschen im Keller unsere Modelleisenbahnen bauen und zum Mittagessen kurz hochkommen. Die Anzugherren in Bonn sorgten für die sichere Rente.
Zwei Drittel der Menschen in Europa sind nostalgisch
Aber dieser Zustand wird nicht zurückkommen. So wenig wie der Zustand zurückkommen wird, in dem es keine Ehe für alle gab, oder jener, in dem Männer zur Bundeswehr eingezogen wurden, um ein Jahr lang zu lernen, wie man betrunken Stiefel schnürt. Wer dahin zurückginge, wäre auch nicht konservativ, sondern antimodern, was immer noch ein Unterschied ist.
Nur, die Position, dass früher alles irgendwie besser war, ist keine Minderheitenposition. Laut einer nun veröffentlichten Erhebung der Bertelsmann-Stiftung ist eine Mehrheit der Europäerinnen und Europäer nostalgisch. Zwei Drittel von ihnen und 61 Prozent der Deutschen sind demnach der Ansicht, dass die Welt früher besser gewesen sei. Je älter die Befragten sind, desto eher glauben sie das der Umfrage zufolge. Und je eher sie dieser Auffassung sind, desto eher verorten sie selbst sich rechts der politischen Mitte.
Aber auch in anderen Kreisen, in denen man sich selbst für progressiv hält, ist im Angesicht des Wandels durchaus eine emotionale Zurückhaltung an der Grenze zur Angst zu bemerken. Fehlen die positiven Visionen? Oder fehlt das Vertrauen in positive Visionen? Großen Entwicklungen folgte jedenfalls schon oft eine Phase, die von Desillusionierung geprägt wurde.
Vergangenheit verkauft sich gut
Das Internet etwa: irgendwie ziemlich im Eimer. Obama: Toll, nur kam danach eben Trump. Pop: einst ein politisches Versprechen – aber im Vergleich mit der Konsumwelt, in der sich YouTube-Stars tummeln, wäre selbst ein Revival der grundehrlichen Haarspray- und Levis-Botschafter der Achtziger und Neunziger rebellisch.
Keine Veränderung zum Schlechten gilt vielen derzeit als größter vorstellbarer Erfolg. Ein Europa, das wenigstens nicht ganz kaputtgeht – wow! Eine Arbeit, die auch in zehn Jahren noch mies bezahlt wird – das wäre doch was!
Hinzu kommt, dass sich Vergangenheit blendend verkauft. Tourismus etwa lebt auch von der Behauptung der Authentizität, einer vorgegaukelten Echtheit, die sich aus dem Gestern speist: Die einen haben ursprüngliches Fachwerk, ganz neu gebaut, die anderen bieten natürliche Berge oder von Menschen kaum je betretene Strände. Dass die Alpen in ihrem Naturzustand undurchwanderbar wären, vermittelt sich auf den Postkartenmotiven eher nicht.
Eine Zombie-Vergangenheit, so inexistent wie die Zukunft
Wir leben in einer Zeit der Retrotopien, in der die Frage, wo vorne ist, von einigen sehr grundsätzlich mit „hinten“ beantwortet wird. „Retrotopien“, so hat es der Soziologie Zygmunt Bauman kurz vor seinem Tod 2017 genannt, sind „Visionen, die sich anders als ihre Vorläufer“ – also die Utopien – „nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der verlorenen/geraubten/verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit“.
Der Witz an dieser Zombie-Vergangenheit ist, dass sie so inexistent ist wie die Zukunft. Die Literaturwissenschaftlerin Svetlana Boym sieht in der Nostalgie „ein Gefühl des Verlusts und der Entwurzelung“, aber auch „eine Romanze mit der eigenen Fantasie“. Die Erkenntnis, die der Satz „Früher war mehr Lametta“ transportierte, den heute noch Leute wie eine Bauernregel halb ironisch, halb seufzend durch die Kommentarspalten schleifen, schließt hier an, als Kalenderspruch zur Gegenwart.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Übersehen darf man dabei nur eines nicht: 2015 hat der letzte Lametta-Hersteller in Deutschland die Produktion eingestellt. Aus dem Bundesverband für den gedeckten Tisch, Hausrat und Wohnkultur hieß es damals, Lametta sei „völlig out“.
Früher war mehr Lametta – das ist kein Witz mehr. Das ist ein Fakt. Es will einfach niemand mehr haben. Es würde einen aber nicht wundern, wenn demnächst jemand versucht, sein politisches Programm mit einem Lametta-Revival zu verkaufen, an ein paar Emotionen kann man damit ja vielleicht trotzdem andocken: Gute deutsche Lametta-Tradition, in der Ära Merkel beendet, oder so.
Lassen Sie uns dann aber bitte stark sein. Lassen Sie uns aufstehen und sagen: Nein, Herr Spahn!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen