Kommentar Obama-Besuch: Sehnsucht nach Charisma
Obama hin oder her - die Interessensunterschiede zwischen Europa und USA sind riesig. Und das Oval Office ist keine Bühne, auf die Kuscheltiere geworfen werden.
Bettina Gaus ist Afrika-Kennerin, Buchautorin und politische Korrespondentin der taz
Blinde hat Barack Obama bislang nicht sehend gemacht, und auch übers Wasser ist er noch nicht gewandelt. Aber das muss man eigentlich nur für eine Frage der Zeit halten - jedenfalls dann, wenn man die messianischen Heilserwartungen, die mit seiner Person verbunden werden, ernst zu nehmen bereit ist und sie nicht nur als politikferne Tagträumerei sieht.
In den letzten Jahren konnte man gelegentlich den Eindruck haben, der Graben der wechselseitigen Verständnislosigkeit zwischen Europäern und US-Amerikanern sei inzwischen so tief, dass selbst ein Streit schwer zu führen ist, weil es an gemeinsamen Begriffen und Kriterien fehlt. Jetzt stellt sich heraus, dass die Gemeinsamkeiten nach wie vor überraschend groß sind.
Auf beiden Seiten des Atlantiks ist die Sehnsucht nach einer charismatischen Führungspersönlichkeit riesig. Alles soll besser werden, alles soll ein neuer, junger Kandidat anders machen als die von breiten Schichten zutiefst verachteten Berufspolitiker. Diese Verachtung und die Sehnsucht nach einem starken Mann bergen stets ein demokratiefeindliches Element in sich. Vor allem aber verstellen sie den Blick auf unterschiedliche Interessen, die Europa und die USA auch dann haben, wenn die Amtszeit von George W. Bush endlich zu Ende geht.
Die Ablösung des bornierten, militaristischen und bigotten Präsidenten wird ein Anlass sein aufzuatmen. Aber das bedeutet nicht, dass damit alle Konflikte zwischen Europa und den USA beseitigt sind - oder dass die Bereinigung dieser Konflikte ausschließlich eine Frage des guten Willens ist.
Sollte Barack Obama tatsächlich zum Präsidenten der USA gewählt werden, dann ist es seine Pflicht, die Interessen seines Landes zu vertreten. Charisma hin, Charme her. Dazu gehört - um nur ein Beispiel zu nennen - die Forderung an die Nato-Verbündeten, ihre Rüstungsausgaben zu erhöhen. Wenn Obama dafür eintritt, dann tut er das, was ihm sein Amtseid gebietet. Wenn eine deutsche Regierung sich dem verweigert, dann tut sie dasselbe. Das Weiße Haus ist kein Konzertsaal und das Oval Office keine Bühne, auf die Kuscheltiere geworfen werden. Auch dann nicht, wenn Barack Obama dort einzieht.
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