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Kommentar Merkel in der TürkeiHöfliches Desinteresse

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Wenn Europa und Deutschland die Türkei einmal mehr brauchen als umgekehrt, wird man feststellen, dass es die Ära Merkel war, in der die Türkei für Europa verloren ging.

D as Beste, was man Angela Merkel in Bezug auf die Türkei nachsagen kann, ist, dass sie das Land nicht interessiert. Das gilt auch nach dem scheinbar versöhnlichen Ende ihres Staatsbesuches. Alles, was sie zu den Verhandlungen mit der EU sagt, zielt darauf ab, die Türken zu entmutigen. Ihr Ziel ist ganz offenbar, Ankara dazu zu bringen, von sich aus die Beitrittsverhandlungen zu beenden. Auch dieses Mal verband sie ihre Formel, sie würde sich an bestehende Verträge halten, sofort mit dem Hinweis auf Zypern, wohlwissend, dass die griechischen Zyprioten ihr bester Verbündeter sind, wenn es gilt, die Türken aus der EU herauszuhalten.

Mit Maria Böhmer hat sich Merkel zudem eine Integrationsbeauftragte ausgesucht, die die mit Abstand unbeliebteste Figur seit der Einführung dieses Amtes ist. Anders als ihre Vorgängerinnen ist Böhmer keine Anwältin der Einwanderer, sondern gefällt sich darin, die Menschen in dümmlicher Weise zu belehren. Diese Integrationspolitik unter Merkel und Böhmer führt dazu, dass die qualifiziertesten türkischstämmigen Migranten Deutschland fluchtartig verlassen und stattdessen die deutsch-türkische Szene in Istanbul bereichern.

Die türkische Politik ist in den letzten Jahren deutlich selbstbewusster geworden. Erdogan ist ein Politiker, der in seinen Äußerungen oft überzieht und selten einen Fettnapf auslässt. Aber in seiner Ablehnung der Rolle als demütiger Bittsteller vor den Toren Europas ist er sich mit der großen Mehrheit seiner Landsleute einig.

Schon in zehn Jahren könnte die Zeit gekommen sein, in der Europa und Deutschland die Türkei mehr brauchen als umgekehrt. Im Rückblick wird man dann feststellen, dass es die Ära Merkel war, in der die Türkei für Europa verloren ging.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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13 Kommentare

 / 
  • V
    vic

    @ mühsam

    danke mühsam

    So sehe ich das auch.

    Die "pivilegierte Partnerschaft" Merkels bedeutet, dass wir die Türkei benutzen.

    Für Truppenstationierung, als Nachschubweg, als Überflugroute, und als Komplize gegen den bösen Iran, dem unterstellt wird dass er von seinem selbstverständlichen Recht Gebrauch macht, die eigene Bevölkerung vor internationaler Bedrohung zu schützen.

    Und natürlich laufen wir im Urlaub gerne mit blankem Bierbauch und kurzen Hosen in Restaurants ein, während wir in der BRD selbstverständlich keine Kopftücher akzeptieren.

  • S
    Stefan

    "Diese Integrationspolitik unter Merkel und Böhmer führt dazu, dass die qualifiziertesten türkischstämmigen Migranten Deutschland fluchtartig verlassen und stattdessen die deutsch-türkische Szene in Istanbul bereichern."

     

    Tatsächlich?

     

    Die Forderung nach einer Integration und Qualifikation führt dazu, dass gerade diejenigen, die dies erfüllen, das Land fluchtartig verlassen? Was ist das für eine Logik?

     

    What next? Ein Grundsatzbekenntnis des Bundespräsidenten zur Demokratie führt zu einem massenhaften Exodus aller Demokraten aus Deutschland?

  • A
    aso

    „...Schon in zehn Jahren könnte die Zeit gekommen sein, in der Europa und Deutschland die Türkei mehr brauchen als umgekehrt...“:

     

    Und zwar weil...??? Wo bleiben da die Erläuterungen von JÜRGEN GOTTSCHLICH ?

     

    Und liebe taz: wo bleibt endlich die taz-Umfrage zur EU-Aufnahme der Türkei?

  • A
    Amos

    Die Türkei ist der wichtigste Handelspartner Deutschlands.

    Man stelle sich vor, die Türkei kommt in die EU-,

    dann passiert das, was jetzt Griechenland, demnächst Portugal,Spanien und Italien passiert. Wer unterstützt dann die Türkei.Dreimal darf man raten. Die EU kann doch nicht mal jetzt ihre Hausaufgaben bewältigen und mit der riesigen Türkei wird es doch noch schwieriger.

    Und da ist noch Erdogan-, wie will man mit dem zu vernünftigen Kompromissen kommen?

  • A
    Amos

    Die Türkei ist der wichtigste Handelspartner Deutschlands.

    Man stelle sich vor, die Türkei kommt in die EU-,

    dann passiert das, was jetzt Griechenland, demnächst Portugal,Spanien und Italien passiert. Wer unterstützt dann die Türkei.Dreimal darf man raten. Die EU kann doch nicht mal jetzt ihre Hausaufgaben bewältigen und mit der riesigen Türkei wird es doch noch schwieriger.

    Und da ist noch Erdogan-, wie will man mit dem zu vernünftigen Kompromissen kommen?

  • C
    claudia

    >>...dass die qualifiziertesten türkischstämmigen Migranten Deutschland fluchtartig verlassen...

  • HW
    Heinrich W

    "Diese Integrationspolitik unter Merkel und Böhmer führt dazu, dass die qualifiziertesten türkischstämmigen Migranten Deutschland fluchtartig verlassen und stattdessen die deutsch-türkische Szene in Istanbul bereichern."

     

    Ist das dramatische Überspitzung? In der Sache bin ich ja auf der Seite des Autors aber ich glaube kaum, dass die Integrationspolitik Merkels einen Menschen der angesprochenen Gruppe zu einem solch großen Schritt veranlassen würde. schon gar nicht "fluchtartig".

     

    oder hab ich da die Ironiekeule übersehen? Polemik der Art hat die TAZ doch gar nicht nötig (fällt mir aber doch recht häufig auf)

  • M
    Martin

    Tja, was soll man sagen? Selten derart liebedienerischen Mumpitz gelesen, selbst für taz-Verhältnisse, wo der Mump recht gepflegt gepitzt wird.

  • H
    hoda

    Merkel hat Recht !

    Wir und die EU brauchen die Türkei

    0,0 in Worten :

    Null,Null !

    Wer was andres erzählt, hat Unrecht.

    so isses nun mal.

  • J
    joschi

    Wann waren tuerkische Politiker jemals demuetige Bittsteller?Ueblicherweise werden Zugestaendnisse deutlich eingefordert und zwar mit Nachdruck.

  • A
    A.Grech

    "Schon in zehn Jahren könnte die Zeit gekommen sein, in der Europa und Deutschland die Türkei mehr brauchen als umgekehrt."

     

    Kann sein. Aber Dankbarkeit ist ja dummerweise keine politische Kategorie. Also, wenn die Türkei in zehn Jahren möglicherweise was anzubieten hat, kann es Europa auch erst in zehn Jahren bezahlen - und nicht heute.

  • GR
    Guntram Rücker

    Man hätte sich gewünscht, dass Herr Gottschlich seine düsteren, aber leider sein Geheimnis bleibenden Zukunftsszenarien, in denen wir auf die Hilfe der Türkei angewiesen sein werden, etwas näher erläutert. Was bitteschön hat der Autor im Sinn? Da dies leider rätselhaft bleibt, halten wir uns an die Realität: Warum um alles in der Welt sollen wir ein Land, das mehrheitlich hoch erregt und nationalistisch, Völkermord leugnend und in großen Teilen noch im Feudalismus befindlich in die EU lassen, bevor es in der Moderne angekommen ist? Von massenhaften Menschenrechtsverletzungen (Kurden)kann eben nicht abgesehen werden. Dass die Türkei sich hinsichtlich des EU Mitgliedes Zypern nicht an die vereinbarten Regeln hält ist keineswegs eine Petitesse wie Gottschlich anzunehmen scheint sondern lässt die schlimmsten Befürchtungen schon vor einem evtl. Beitritt gerechtfertigt erscheinen.

  • M
    mühsam

    nein herr gottschlich, frau merkel ist nicht völlig an der türkei desinteressiert:

    allerdings habe ich von merkels wirklichem interesse an der türkei in ihrer zeitung nix gefunden- in anderen schon:

    frau merkel ist interessiert an der türkei als strategischem partner gegen den von der nato als atomwaffenaspirant dämonisierten iran- die türkei soll in die sanktionsspirale und mögliche kriegsführung gegen dieses land eingebunden werden.

    dies anliegen trug sie erdogan vor.

    auch nicht gelesen habe ich in ihrer zeitung(aus wie ich glaube, durchsichtigen gründen)wie erdogan, den ich als immer-nóch unterdrücker der kurden scharf kritisieren muss, diesem von merkel vorgebrachten anliegen begegnete:

     

    er lehnte es ab- und als merkel die angebliche atomwaffengefahr durch den iran als grund anführte, antwortete er, daß er im ganzen nahen osten überhaupt keine atomwaffen haben wolle. solche habe aber israel-, davon spreche merkel aber wohlweißlich nicht.

     

    ich bin der ansicht, daß im nahen osten entweder a l l e atomwaffen abgeschafft werden, also gerade auch die israelischen ,oder daß -wie im kalten krieg- durch zwei oder mehrere gleichwertige atommächte dort eine kriegsverhindernde p a t t -situation geschaffen werden muss.

     

    wir haben im irakkrieg gesehen, wie einseitige atombewaffnung rücksichtslos als drohung gegen einen hoffnungslos unterlegenen gegner verwendet wird- hier war es -was ihnen, herr gottschlich,und anderen autoren der taz nicht gefallen - der atom-schurkenstaat usa.

     

    in d i e s e m punkt muß ich sogar herrn erdogan zustimmen, leider!