Kommentar Medwedjew: Dissident im Kreml
Russland muss sich von schlechten Gewohnheiten lösen, und nicht nur von der Trunksucht - sagt Medwedjew. In anderthalb Jahren bewegte er indes nichts. Kann er oder will er nicht?
Z ehn Jahre lang wirkte der russische Präsident Dmitrij Medwedjew in einer Führungsriege mit, die sich vor allem eins zum Ziel setzte: Die nach dem Kommunismus wachsende, aber beunruhigende Bereitschaft der Bürger zum Nachdenken möglichst schnell wieder einzudämmen. Dieses Ziel hat der Putinismus erreicht. Der Kreml nennt diese Errungenschaft auch Stabilität - hinter der sich jedoch eine jahrhundertelange Trennung von Staat und Gesellschaft verbirgt.
Nun soll es mal wieder in die andere Richtung gehen. Krise, Rückständigkeit und Korruption würden überwunden und ein neues Russland gebaut, verheißt Medwedjew. Nur müsse man sich von schlechten Gewohnheiten lösen - und nicht nur von der Trunksucht. In einer liberalen Internetzeitung kritisierte der Kremlchef harsch den Zustand von Russlands Politik und Gesellschaft, und forderte das Volk zum Mitdenken auf.
War er sich für diesen Vorstoß der Zustimmung des Mentors Putin sicher, dem er mit der schonungslosen Diagnose Totalversagen bescheinigt? Oder geht das Führungstandem arbeitsteilig vor, hier der liberale Medwedjew, dort der konservative Putin? Es war nicht Medwedjews erster Appell zu mehr Offenheit und Veränderung. In anderthalb Jahren bewegte er indes nichts. Kann er oder will er nicht? War es ein Hilfeschrei?
Niemand weiß es. Sicher ist, dass dieser Appell zunächst folgenlos bleiben wird. Daher lässt man ihn wohl auch gewähren. Vielleicht bleibt die Erkenntnis hängen, dass Russland dringend einer Modernisierung bedarf. Dass er die Gesellschaft in sein Modernisierungsverständnis mit einbezieht, bleibt Medwedjews theoretisches Verdienst. Bislang diente Modernisierung den Herrschaftsclans lediglich dazu, sich gegen Veränderungen zu immunisieren. Eine russische Besonderheit.
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